Folgende Geschichte ist noch unvollendet, trotzdem stelle ich sie einfach mal ein, zum Stöbern ...

 

Mein Nachbar Ross ist ein Neandertaler. Seine Gene wurden verändert und an jeder einzelnen Position, an der es einen Unterschied zwischen Sapiens und Neandertaler gibt, entsprechend angepasst. Das geht ja heutzutage. Nun, eigentlich ist es verboten, und eigentlich dürfte es ihn auch deshalb garnicht geben, nur ist er ja trotzdem da. Er sieht schon etwas merkwürdig aus, aber nicht so anders, daß er in besonderer Weise auffallen würde. Er ist ein fast ganz normaler Mensch - nein, er ist ein normaler Mensch mit einigen Besonderheiten, die einem auffallen, wenn man sich denn näher mit ihm beschäftigt. Das wiederum tut keiner gerne, denn zu seinen Besonderheiten gehört eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang mit anderen Menschen. Er spricht wenig, und wenn, dann nasal und quäkend, als wäre er gerade wahnsinnig genervt, er lacht nicht über Witze und versteht keine Ironie. Kurz: Seine Smalltalkskills sind unterirdisch. Er tratscht auch nicht und ein Geheimnis ist bei ihm gut aufgehoben. Ich habe ihn mittlerweile schätzen gelernt, aber das war ein langer Weg.

 

Es war an einem sonnigen Septembermorgen. Die Kinder waren zur Schule los, und ich ging in den Garten um meine Übungen zu machen, als ein Umzugswagen vor dem Haus gegenüber hielt. Das hatte seit einiger Zeit leergestanden, den Vorbesitzer, einen altersschwachen Alkoholiker, hatten wir kaum noch kennengelernt, und nun stand also der neue Besitzer vor mir. „Hallo!“ Sagte er kurz, „Sie sind wohl mein neuer Nachbar! Ich bin Ross!“

„Vincent, angenehm“ murmelte ich und guckte aufmerksam seine Sachen an. Auf dem Dorf ist es jedesmal eine Sensation, wenn auf der Straße irgendetwas passiert. Ein Auto fährt selten genug vorbei, nur manchmal verirrt sich ein neugieriger Mensch aus der Umgebung auf den Stichweg, der hinter dem Dorf zu einem schwer befahrbaren Feldweg wird. Ich hatte mir das damals bewusst so ausgesucht, denn es war mir eines wichtig: Das ich meine Ruhe habe. Kein Durchgangsverkehr war eine Grundvoraussetzung, und auch das Dorf selber: Nicht so nah an den Seen, das der Tourismus hier Fuß fassen würde, weit genug weg von der Stadt, um keine reine Pendlersiedlung zu sein, aber mit einem Wald hinter dem Feld. Was anderes hatte ich mir nie gewünscht. Sicher, wir hatten jetzt weite Wege zu fahren, und der Schulbus der Kinder fuhr um fünf vor sieben, was im Winter praktisch noch mitten in der Nacht ist, aber meine Ruhe hatte ich. Bis zu diesem Tag.

Ross hatte den Umzugswagen selber gefahren und war auch alleine. Unverdrossen schleppte er ein Paket nach dem anderen in sein neues Haus hinein, und ich sah ihm nur kurz zu, ehe ich anfing, zu helfen. Das macht man auf dem Dorf so. Man hilft sich gegenseitig. Er hatte auch einen Kühlschrank und eine Waschmaschine, sowie eine größere Kommode, und ich fragte ihn, wie er die Dinge denn in den Wagen hereinbekommen hätte, ohne Hilfe. Ich hatte ein Lachen oder eine Ausflucht erwartet, aber er ging zur Kommode und erklärte mir, wie er das unförmige Ding kippen konnte, damit er es auf dem Rücken tragen konnte. Das war nicht nur eine Sache von Kraft, dazu war auch reichlich Geschick vonnöten, Planung und Vorbereitung, denn ohne Ablageplatz wäre es ebensowenig gegangen. „Warum hast du nicht einfach Hilfe geholt?“ „Ich komme aus der Stadt“, sagte er nur, in dieser nervigen, quäkenden Stimme, die einem die Lust an jeder weiteren Nachfrage nahm. Dennoch half ich ihm weiter, und lud ihn auch auf einen Kaffee zu mir ein, nachdem die schwersten Sachen im Haus waren.

 

Ich ahnte damals natürlich nicht, das Ross ein Neandertaler war, wie gesagt, er sieht etwas merkwürdig aus, mit seinen tiefen Augen, der flachen Stirn, der gedrungenen Statur, den roten Haaren und blauen Augen, aber das nimmt man so hin. So ist der Mensch gebaut. Wenn er etwas sieht, was nicht in seine Erwartungen passt, dann passt er die Erwartungen an und sieht deshalb nichts, was seinen Erwartungen widersprechen würde.

Während des Kaffees versuchte ich mit ihm, über dies und das zu reden, wie man es so macht, aber das gestaltete sich als schwierig. Das Wetter? ungewöhnlich warm für September. Das Dorf? Ein typisches mecklenburgisches Bauerndorf. Die Stadt? Wie Berlin nunmal so ist. Wir saßen am Frühstückstisch, tranken Kaffee, und alle Gesprächsanfänge versandeten im nichts. Ich fand das nicht schlimm. Es ist immer gut, mit den Nachbarn nicht allzuviel zu tun zu haben, denn eine lebhafte nachbarschaftliche Beziehung ist ein nachhaltiger Störfaktor der Ruhe. Aber als er ausgetrunken hatte, nahm er meine Hand herzlich in seine und sagte: „Es war mir eine Freude, hier sitzen zu dürfen. Vielen Dank für den Kaffee!“ Damit verschwand er und machte weiter in seiner Wohnung, während ich mein Übungsprogramm wieder aufnahm.

 

Ich dachte dann nicht weiter über ihn nach. Es schien ein angenehmer Nachbar zu sein, ein Kauz sicherlich, aber Wortkargheit gehört bei Nachbarn zu den angenehmen Eigenschaften. Dennoch kam ich an dem Tag nicht mehr zu meinen Übungen, es war eine gute Stunde vergangen, und ich hatte auch anderes vor. Ich musste meinen Artikel für den Reisekurier noch einmal um fünfzehn Zeilen kürzen, und das war heute dran. Meine Karriere als Journalist war zwar irgendwann einmal vielversprechend gewesen, noch heute sind meine Berichte über Radtouren in Karelien und durch den Balkan die Referenzseiten im Netz, wenn man nach so etwas sucht, aber dann sind andere durch Australien und den Himalaya gefahren, und ich landete, nach Umwegen über den Sport und der Werbung, schließlich bei den stets zu aktualisierenden regionalen Touristenmagneten. Das war zwar miserabel bezahlt, aber dafür war es eine einfache Arbeit, die ich oft von Zuhause aus erledigen konnte, und ich fand auch einen gewissen Gefallen daran, über die Geschichte der Gegend mehr und mehr Bescheid zu wissen. Am Anfang fand ich es toll, den Verfechtern einer germanisch-deutschen Nationalgedankens, die es hier noch reichlich gibt, nachweisen zu können, daß Mecklenburg eigentlich ein Gebiet der Westslawen ist, daß von den Germanen mit Christentum und Burgen erst erobert wurde, und daß die Trennung zwischen Junker und Bauern, verbunden mit einer auffallend kleinen Mittelschicht, letztlich immer noch die Trennung zwischen germanischen Herren und slawischen Tributären ist, weswegen der Mecklenburger als solcher zwar Deutscher, aber kein Germane, sondern Slawe ist, und das die Deutschen insgesamt eine germanisch-romanischkeltisch-slawische Mischnation darstellen. Mittlerweile hatte ich aber auch Gefallen gefunden an den vielen kleinen Geschichten, die überliefert waren, Mudder Schulten und Vadder Jahn, die Raubritter der Landskron und die Penzliner Hexen. Es ist ja interessant, da wo man hinguckt. Kurz, ich hatte viel Zeit und wenig Geld, mit zwei oder drei Stunden war meine Arbeit meist schon erledigt, und ich hatte genug Zeit für meine TaiChi Übungen und den Garten. Die Kinder kamen meist erst am späten Nachmittag nach Hause, meine Frau hatte einen gut bezahlten Job in Berlin und auch eine Wohnung dort, und sie kam nur am Wochenende, aber ich fürchtete, nicht mehr, um mich zu sehen, sondern vor allem der Kinder wegen. Das Verhältnis zu meiner Frau Bea war gut und harmonisch, wir hatten alle Krisen zusammen gut gemeistert und jetzt ein geregeltes und gutes Leben, aber nun gab es keine Krisen und mehr und auch keine Aufgaben und wir entfremdeten uns zusehends voneinander. Die Kinder, Markus, 14, und Juliane, 16, funktionierten mittlerweile weitgehend eigenständig, dennoch kapselten sie sich nicht ab, sondern besprachen gerne ihre Probleme mit mir, wohl deshalb, weil ich darauf verzichtete, ihnen Lösungsvorschläge oder Ratschläge anzubieten. Ich hätte auch gar keine gehabt, selbst wenn ich wollte. Ich fühlte mich oft so wie in Watte gepackt, als hätte ich den Kontakt zum Leben verloren, und immer öfter fand ich mich bei dem Gedanken, mich alleine zu fühlen, angesichts einer Familie, die das Haus zunehmend verließ, und ich fragte mich, ob ich alleine hier auf diesem Dorf in der Mecklenburger Pampa eine Zukunft hätte. Eine Zukunft, die ich mir mühsam aufgebaut hatte. Der Gemüsegarten war nun endlich gepflegt, die Johannisbeeren und Himbeeren brachten Erträge, der Hühnerstall war gebaut und wir hatten eigene Eier, aber das alles war viel Arbeit und brachte einen nicht in Kontakt mit anderen Menschen, und ob es das Ideal meines Lebens war, alleine in meinem Idyll, oder bestenfalls alleine mit meiner Frau in meinem Idyll zu leben, das fragte ich mich immer öfter und ich wusste keine Antwort.

 

Das war die Situation an diesem Sommertag im September. Es war ein Donnerstag. Und gerade, als ich mich hinsetzen wollte, um an meinem Artikel zu arbeiten, rief Bea und und teilte mir mit, daß sie an diesem Wochenende nicht raus kommen würde. Sie hätte so viel zu tun, und es passte ihr nicht. Das Gespräch war kurz, und ich dachte mir erst nichts dabei, war sozusagen die gelegentliche Enttäuschung schon gewöhnt, aber dann ertappte ich mich dabei, wie ich traurig war, wie ich mich allein gelassen fühlte und innerlich leer. Ich zögerte einige Male, aber dann rief ich Bea an , und sagte, ich würde sie doch gerne sehen am Wochenende, und da sagte sie blank heraus, das ginge nicht, sie hätte einen Liebhaber und würde das Wochenende mit ihm verbringen. Es wäre gut, wenn ich den Kindern eine andere Geschichte erzählen könnte.

 

Als ich auflegte, blähte sich meine innere Leere gespenstisch auf. Sie hatte einen Liebhaber! Es hatte sich angedeutet in den letzten Jahren unserer langsamen Entfremdung, aber jetzt war es ein Schock für mich. Ich fragte mich, wie lange das schon ging, war es der erste, oder hatte sie mich die ganzen Jahre zum Narren gehalten? Vielleicht war sie nur nach Berlin gegangen, weil sie da schon einen Liebhaber hatte? Erst dachte ich zu wissen, daß das nicht sein könne, aber dann kamen mir Zweifel. Ich überlegte zurück, ob es Zeiten gab, wo sie scheinbar grundlos später nach Hause kam, oder Seminare, deren Zweck nicht eindeutig war, ob es eigentlich einen Zeitpunkt unserer Entfremdung gab, und und und, was man sich so denkt. Ich ging an den Computer, um meine Arbeit fertig zu machen, riss mein Programm irgendwie ab, nur um hinterher wieder ins grübeln zu geraten.

Als wir uns zusammentaten, und das erste Kind unterwegs war, haben wir uns nicht Treue versprochen. Wir haben uns versprochen, daß die Familie immer den ersten Rang hat, und das, sollte mal einer astray gehen, auf andere Pfade gelangen, die Familie darunter nicht leiden solle und im Gegenzug der Andere auch bereit sein müsse, zu verzeihen. So hatten wir uns das gedacht. Aber als dann die Kinder da waren, war eh alles ganz anders. Auf einmal hat man gar keine Zeit mehr, um auch nur daran zu denken, sich auf irgendwelche Abwege zu begeben. Das Leben ist durchgetaktet, jeder Plan muss genauestens und minutiös besprochen werden, damit die Organisation weiterhin funktioniert, und für Heimlichkeiten war, in den ersten Jahren zumindest, gar kein Raum gewesen.

Oder doch? Je mehr ich nachdachte, desto mehr Zweifel kamen mir. Der Yogakurs, war der womöglich von Anfang an eine Farce? Und was ist mit der Arbeit? Hatte sie womöglich Pausen im Büro benutzt, um - ich wollte mir die Möglichkeiten nicht ausmalen, und doch tat ich es, und dabei wurde mir klar, das ich nichts wissen konnte - auch wenn mir der klarere Teil meines Verstandes sagte, daß sie mir nichts lange verheimlichen würde und auch nicht könnte, und das das eine ganz frische Geschichte sein musste, vermutlich die erste, und womöglich war noch nicht mal was passiert, und vielleicht gab es auch keinen Liebhaber, sie wollte nur einfach nicht kommen und mich nicht sehen. Ein Gedanke, der zwar zunächst beruhigend schien, aber im Grunde alles nur noch schlimmer machte - wenn sie einen Liebhaber hatte, würde sie seiner überdrüssig werden und zu mir zurückkommen, wenn sie aber mir überdrüssig geworden war, dann stand ich jetzt alleine da, und hätte den Rest meines Lebens alleine zu planen.

 

Am Nachmittag kamen dann Juliane und Markus nach Hause, und während er gleich nach oben verschwand, um in seiner dunklen Muffhöhle seiner Pubertät zu frönen, eröffnete sie mir, daß ihr Freund eine Wohnung gefunden habe, und noch einen Mitbewohner suche, und sie würde gerne das Zimmer in der Stadt mieten, nicht nur, um mit ihm zusammenzuleben, sondern weil es dann viel einfacher wäre, weil sie ja wegen des Abiturs jetzt immer eh so lange in der Stadt bleiben müsse. Ich sah sie nur an und sagte gar nichts. Der Gedanke war mir schon lange gekommen, daß es für einen jungen Menschen wie sie praktischer wäre, in der Stadt zu bleiben, anstatt mit dem langen Weg aufs Dorf jeden Tag eine Stunde oder mehr zu verlieren. Zudem war sie für ihr Alter sehr vernünftig, ebenso wie ihr Freund, Christian, 22, ein Student der Fachhochschule, den ich sehr mochte. Nichts lag mir ferner, als diesen beiden Steine in den Weg zu legen, und auch die Finanzierung wäre - gesetzt den Fall, Bea würde mitspielen, wovon auszugehen war, kein Problem. Ich hatte also keine Argumente gegen sie, und wollte auch keine haben, auf der anderen Seite fühlte ich mich völlig überfordert mit der Situation, an einem Tag gleich beide Frauen meines Lebens zu velieren und schwieg einfach.

„Papa, was ist denn mit dir, nun sag doch was!“ herrschte sie mich schließlich an. Einen Moment kam es mir so vor, als wünschte sie sich, daß ich nein sagte, um nicht ihre Kindheit zu früh aufzugeben.

„Willst du das denn wirklich?“ fragte ich. „Und wenn das mit Christian mal schwierig wird, was ist dann?“

„Ich bin ja nicht aus der Welt, wenn es nicht klappt, kann ich immer noch hierher zurückziehen, oder es findet sich irgendwas anderes!“

„Ich muss nochmal mit deiner Mutti sprechen, aber eigentlich finde ich das sogar gut. Meinen Segen hast du!“

„Danke, Papi!“ rief sie, und bevor wir noch irgendetwas weiteres besprechen konnten, war sie schon nach oben verschwunden, vermutlich, um die Neuigkeit Christian und ihren Freundinnen mitzuteilen.

 

Ich setzte mich an den Computer. Ich hatte heute noch nicht mein E-Mail Postfach gecheckt, was ich eigentlich hätte machen sollen, aber die Erfahrung hatte gezeigt, daß wenn ich erst einmal ins Internet ging, ich es nicht dabei beließ, die notwendigen Nachrichten zu beantworten, sondern immer auch in die Nachrichten des Tages guckte, ob die Welt wieder ein Stück näher an den Abgrund herangerückt war. So las ich auch heute eine reißerisch aufgemachte Enthüllungsstory über den amerikanischen Präsidenten, seine Verstrickungen in ein Öl- und Waffenkartell, wie sie für einen amerikanischen Präsidenten eigentlich auch obligatorisch sein müsste, dann den aktuellsten Kleinkrieg der deutschen Politikerlandschaft über eine Äußerung, die einer gemacht hatte, der mit seiner halbherzigen Entschuldigung die hochschlagenden Wogen kaum glätten konnte.

Ich finde Politik spannend. Ich kann mir nicht helfen. Als Bürger einer Demokratie sind wir ja dazu angehalten, wenigstens so gut Bescheid zu wissen, das wir uns eine Meinung darüber bilden können, welcher Fraktion wir am ehesten die Realisierung unserer Interessen zutrauen. Ich hatte mich immer als links stehend verstanden und entsprechende Parteien gewählt, denn ich fand es selbstverständlich, das wir eine solidarische Gesellschaft anstreben sollten, in der jeder seinen gerechten Anteil vom Kuchen erhält, und konnte es nie verstehen, daß die Bürger, die ja in ihrer Mehrheit nicht zu den Privilegierten gehören, dennoch immer Parteien wählten, die für die Privilegien der Reichen eintraten. Aber meine Identifikation mit der linken Seite hatte einen erheblichen Schlag bekommen, als ich auf einmal anfangen sollte, meine lokalarchäologischen Artikel zu gendern. Außersprachliche Hilfsmittel wie das Binnen-I oder der Unterstrich wollten mir nicht gefallen, die übermäßige Beanspruchung von Gerundformen als Ausgleichsmöglichkeit wirkte gequält, und die klassische Ausformulierung beider Geschlechter wurde mir von der Redaktion regelmäßig zusammengestrichen. Ich fand mich selber kleinlich, dennoch beharrte ich darauf, meine Texte zunächst mit korrektem grammatikalischem Genus abzugeben, auch wenn mir das anschließend korrigiert wurde. Aber da ich diesen Kleinkrieg auch im Internet verfolgte, kam ich auf einmal auf Seiten wie „Für den Erhalt der deutschen Sprache“ und wurde auf einmal mit rechtem, oder neurechtem, oder weitrechtem Gedankengut konfrontiert, das ich zwar nach wie vor als verstörend empfand, in mir aber den Zweifel legte, ob die Linken tatsächlich immer recht hätten, oder ob es nicht auch eine andere Perspektive gab, aus der man die Nachrichten lesen konnte. Das Ergebnis war, daß die ganze Nachrichtenwelt mich mit plötzlichem Ekel erfüllte, und wenn ich nun doch hindurchscrollte, war das wie eine schlechte Angewohnheit, von der man weiß, daß man sie loswerden will, der man aber immer noch anhängt. 18 Minuten verbrachte ich damit, bevor ich, mitten in einem Artikel über eine Verstrickung diverser Abgeordneter in eine mutmaßliche Korruption, abbrach und auf mein E-Mail Konto starrte.

Von gestern Abend, 18.22 Uhr, war die Nachricht der Redaktion, das aufgrund der anstehenden Umstrukturierungen durch den Verkauf der Mutterfirma an einen Internationalen Investor eine kurzfristige Konferenz in den Redaktionsräumen am heutigen Donnerstag, um 10.30 Uhr stattfinde, in der die Redaktion die neuen Vorgaben bekanntgäbe und das weitere Vorgehen bespreche. Von 15.13 des heutigen Tages kam die Nachricht, in der ich zum Personalgespräch morgen früh um 8.00 Uhr eingeladen wurde.

„Scheisse“ dachte ich nur. Natürlich hätte ich arbeitsrechtlich die E-mail spätestens heute morgen lesen müssen, und hätte genug Zeit gehabt, rechtzeitig zur Konferenz zu kommen. Nun aber war die vorbei und gewesen und morgen früh um acht musste ich mir die Leviten lesen lassen. Warum so früh? Kaum einer kam vor neun zur Arbeit, und ich ahnte jetzt schon, worauf das hinauslief. Es konnte mich nicht wundern, daß ich zum Einsparpotential gehörte und mein Verhalten der letzten Monate schien mir nun nachgerade ein Betteln genau darum gewesen zu sein. Sofort fing ich an nachzurechnen, wie viel Geld mir nach einer ordentlichen Kündigung bleiben würde, und wie ich damit würde haushalten können, aber als ich die Ausgaben gegenrechnete, inclusive des gerade zugesagten WG Zimmers für Juliane, blieb mir zum Leben genau gar nichts. Es reichte einfach nicht, und ich wäre auf das Geld von Bea angewiesen, die sich am Wochenende mit ihrem Liebhaber vergnügen würde.

 

Am Abend fuhr ich zum Training. Seit einigen Jahren machte ich TaiChi, nicht mit großem Ehrgeiz, aber immerhin regelmäßig. Das machte mal mehr, mal weniger Spaß, aber die Form lief ich heute unkonzentriert und auch beim Pushhands war ich ein leichter Gegner, zu sehr brannten die Baustellen, die sich am im Laufe des Tagen angesammelt hatten. Der Lehrer nahm es leicht, und sagte, es ist nicht jeder Tag gleich, und das was man an den Tagen übt, wo es nicht gut geht, das wirke dann doppelt. „Ein schöner Trost“ dachte ich mir, während der schwere Edo sich mir gegenüber aufstellte, um zu kämpfen. Push Hands ist ein schöner Kampf. Im Grunde geht geht es einfach nur darum, den Gegner aus seinem Stand zu bringen. Man stellt sich also gegenüber auf, legt die Handgelenke aneinander und fängt dann an, mit Schieben und Ziehen, Ausweichen und Eindringen, seine eigene Balance zu halten und die des Partners zu stören. So ein Kampf kann sehr intensiv geführt werden, besonders, wenn beide gut stehen, und dann kommt es darauf an, wer im Oberkörper flexibler ist, oder wer besser in die Beine sinken kann, wer die bessere Verbindung in seinem Körper hat, um adäquat auf alle Angriffe zu reagieren. So lernt man, in seiner Mitte zu bleiben. Dabei ist der Kampf kein messen von Kraft. Kraft alleine nützt nichts, wenn der Gegner ausweichen kann und die Kraft, die auf ihn kommt, zu seinem eigenen Vorteil nutzt. Edo war größer als ich und auch kräftiger, außerdem hatte er viel mehr Erfahrung. An guten Tagen hatte ich dennoch auch gegen ihn eine Chance, weil er nach Angriffen oft instabil war. Heute aber schlugen die durch, und ich blieb keine 2 Sekunden auf der Matte. Er schubste, ich fiel, ich stellte mich wieder hin, er schubste, ich fiel. Es gelang mir nicht, die nötige Ausweichbewegung zu finden, um die Kraft an mir vorbeizulassen und die anschließende Instabilität zu nutzen, stattdessen verlor ich nach einigen dieser Kämpfe die Nerven, ich zitterte auf einmal und wollte nicht mehr. Ich sehnte mich nach zu Hause, nach meinem Bett, nun war ich aber hier im Training, und ich wollte mir nicht die Blöße geben, wegen Unpässlichkeiten abzubrechen. Und so stellte ich mich wieder hin, obwohl ich dem Edo nichts entgegenzusetzen hatte, und er schob mich wieder raus, und ich stellte mich wieder hin, und er schob mich wieder raus, und dann, ich hatte es in mir nicht kommen sehen, brach der Frust aus mir heraus, und statt mich Edo gegenüber hinzustellen, fiel ich ihn in einem Sofortangriff an, er war überrascht und stürzte gleich hin und ich auf ihn rauf. Unten machte er sich von mir frei, ich setzte ja auch nicht nach, stand auf und brüllte mich an: „Was soll denn das, du Arschloch!“. Mittlerweile hatte auch der Trainer die Situation ergriffen, stellte sich zwischen uns und befahl mich unter die Dusche: „Das kann mal passieren, aber für heute bist du fertig!“ Es war eigentlich wenig passiert, aber als ich mich umziehen wollte, bemerkte ich auf einmal, daß ich in meiner Hand keine Kraft hatte. Der kleine Finger stand etwas ab, und als ich ihn anfasste, durchfuhr mich ein brennender Schmerz. Im Eifer des Gefechts war mir das noch egal gewesen, aber nun erinnerte ich die komische Bewegung beim Sturz, in der der kleine Finger am Gürtel von Edo hängen geblieben war. Hilflos saß ich in der Umkleidekabine und hielt meine Hand, bis die anderen auch das Training beendeten und sich ihrerseits umzogen. „War war denn mit dir los?“ wurde ich gefragt, aber ein anderer sagte: „Lass ihn, das geht doch jedem von uns mal so. Vielleicht löst sich gerade etwas!“ Ich hingegen wollte auf keinen Fall, daß mein verletzter Finger noch zum Gegenstand der Diskussion werden würde („kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, wäre die harmlose Reaktion darauf gewesen, hier aber musste man immer damit rechnen, daß einem das eigene Unglück als Ergebnis der eigenen Verfehlungen vorgehalten wurde, mit Begriffen wie „Karma“ oder „Naturgesetzen“, und das wollte ich unbedingt vermeiden.) Also zog ich mir mit zusammengebissenen Zähnen meine Hose hoch, das verschwitzte Hemd ließ ich an, zog meine Jacke drüber und verließ fluchtartig die Gruppe.

 

An meinem Auto fiel mir gleich die Warnleuchte auf. Ich wunderte mich darüber, denn das Öl hatte ich gerade vor ein paar Tagen erst nachgefüllt. “Da muss wohl ein Leck drin sein“, dachte ich mir noch, und daß ich morgen nach der Besprechung zur Autowerkstatt fahren müsse. Aber soweit kam ich gar nicht, denn einige hundert Meter vor unserem Dorfeingang fing das Auto plötzlich an zu ruckeln und blieb dann fast abrupt stehen. Ich war noch geistesgegenwärtig genug, die letzten rollenden Meter dazu zu verwenden, auf den Seitenrand zu fahren, dann ging gar nichts mehr. Ich verzichtete darauf, den adac zu rufen, ließ meine Sachen im Auto und ging nach Hause. Ich rief „Ich bin wieder da!“ nach oben, aber keines der Kinder reagierte, und so machte ich mir ein Bier auf und trank es in einem Zug leer. Auch ein zweites und drittes trank ich, obwohl mir schon nach dem ersten schlecht war, dann schlief ich auf dem Sofa ein. Nachts schleppte ich mich noch ins Bett, und um 7.05 Uhr wurde ich von Juliane geweckt.

„Papa, was ist mit dir los! Wir müssen aufstehen! Du musst uns mit dem Auto fahren, es ist schon fünf nach sieben!“

„Scheisse.“ sagte ich, noch bevor ich erinnerte, das das Auto kaputt war , und dann nochmal: „Scheiße.“ Während ich mich anzog - wobei ich gleich mit der ersten Bewegung die Schmerzen im kleinen Finger reanimierte - überlegte ich schnell, was es jetzt für Alternativen gab. Der Bus war weg, das Auto funktionierte nicht - es blieb nur, zu Hause zu bleiben. „Ihr seid krank“ sagte ich deshalb. Zwar sah das die Schule nicht gerne - sie hatte durchaus schon bemerkt, daß unsere Kinder, wenn sie krank waren, oft gleichzeitig krank waren und vermuteten nicht zu Unrecht, daß wir uns ab und an einfach einen freien Tag genehmigten, wenn der Alltag zu stressig zu werden drohte.

„Oh ne,“ sagte Juliane, ich hab überhaupt keinen Bock darauf, hier zu Hause zu sitzen. Was soll ich denn hier? Und heute nachmittag wollte ich mit Christian das Zimmer besichtigen.

„Du kennst das Zimmer genau, schließlich gehst du da schon seit Monaten ein und aus.“

„Aber trotzdem, jetzt ist alles anders. Ich will in die Stadt!“

„Dann musst du das Fahrrad nehmen. Das Auto ist kaputt!

„Oh nee, ne?“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, stapfte sie nach draußen. Mit demselben augenrollendem der-Typ-taugt-ja-zu-gar-nichts-Blick, den auch ihre Mutter angewandt hatte, wenn ich es an munterer Alltagstauglichkeit vermissen ließ. Aber vielmehr Sorgen machte ich mir um mich selber. In 52 min. war mein Personalgespräch, und ich hatte keine Chance, es noch rechtzeitig zu erreichen. Eine Krankmeldung musste her, aber mein Finger wäre kein hinreichender Grund, und Mona Perlich, die Personalchefin, bestand auf einer bestimmten Ärztin ihres Vertrauens, die mich möglicherweise eiskalt abblitzen lassen würde, wenn ich nach einer Krankschreibung fragte. Deshalb befand ich, es sei das Klügste, mich ins Auto zu setzen, den adac zu rufen, und Bescheid zu geben, daß ich eine Panne hatte. Also rief ich in der Schule an, um Markus krank zu melden („Ist Juliane auch wieder krank?“ fragte die Sekretärin schnippisch. „Ne, die kommt mit dem Fahrrad. Vermutlich ist sie zu spät!“ „Aha, Bus verpasst und kein Auto da, verstehe. Also Markus ist krank, ja?“ fragte sie nach, und ich musste die Lüge wiederholen.) Juliane war türschlagend schon aus dem Haus, und ich ging zum Auto und rief kurz nach halb acht von dort den adac an und meine Arbeitsstelle, das ich eine Autopanne hätte.

„Eine Autopanne?“ fragte Frau Perlich nach. „Ja“ antwortete ich.

„Dann bringen sie mir doch bitte den Schadensbericht mit, damit ich den nachher überprüfen kann!“ „Na klar, Frau Perlich, kein Problem!“

 

Und so ging alles seinen Gang: Der adac kam, spät, aber zuverlässig wie immer, und der einfachheit halber ließ ich mich gleich in die Stadt zur Autowerkstatt mitnehmen, dann konnte ich alles selber regeln und musste nicht mit dem Fahrrad fahren. Anschließend ging ich zum Personalgespräch, mit 5 Stunden Verspätung.

„Herr Stone“, begrüßte mich Frau Perlich kalt. Ich hatte nicht gewusst, daß unsere Beziehung so schlecht geworden war, aber dann war ich auch letztens sehr selten in den Redaktionsräumen gewesen. „Sie haben gestern eine sehr wichtige Konferenz verpasst. Was war passiert?“ Jede Lüge hätte mich nur noch tiefer in das Schlamassel geführt, deshalb beschloß ich weitestgehend bei der Wahrheit zu bleiben, nur das Liegenbleiben mit dem Auto auf heute morgen zu verschieben.

„Es tut mir leid, aber ich hatte gestern morgen vergessen, die E-mails zu lesen.“

„Vergessen, so so. Sie wissen aber schon noch, daß das Arbeiten von Zu Hause beinhaltet, den elektronischen Kontakt mit der Geschäftsstelle zu halten? Das steht so in ihrem Arbeitsvertrag!“

„Ich kenne den Arbeitsvertrag. Aber bisher spielte das praktisch keine Rolle, weil ich meine Abgabetermine habe. Ich schreibe ja nicht für die Tageszeitung.“ Der Kurier war ein Haus, das mehrere Formate herausbrachte. Neben der Tageszeitung erschienen Magazine, Tourismusbroschüren und Wurfzeitungen in den verschiedensten Abständen. Theoretisch hatte ich für die Tageszeitung auch zur Verfügung zu stehen, und damit für einen tagesaktuellen Betrieb mit kurzfristigen Aufträgen, praktisch hatte ich fast immer einen Wochenplan, der sich bequem gemäß meiner eigenen Einteilung abarbeiten ließ.

„Das stimmt so durchaus nicht!“ gab Frau Perlich zurück. Jeden Morgen bis 8.30 Uhr haben Sie sich über tagesspezifische Aufgaben zu unterrichten, und auch um 12 Uhr müssen Sie noch einmal ihre Mails checken. Das steht alles hier drin.“

„Ich weiß,“ gab ich zerknirscht zu. „Ich habe einen Fehler gemacht. Das tut mir leid.“

„Das glaube ich ihnen, das ihnen das leid tut,“ gab sie spitzzüngig zurück. Aber das wird ihnen nicht viel nutzen. Im Rahmen der notwendigen Umstrukturierung, die der neue Träger von uns verlangt, wird ihre Bereich direkt der Kulturredaktion eingegliedert. Für sie haben wir daher keine Verwendung mehr. Ihr Arbeitsverhältnis endet zum Ende des Monats.“

„Was?“ rief ich. „Ich werde einfach so gekündigt? Auf welcher Grundlage?“

„Eigentlich hätte es eine betriebsbedingte Kündigung sein sollen, aber so ... Zeigen Sie mir doch mal den Schadensbericht.“

Den hatte ich ja nun zum Glück dabei, mein Verhängnis war aber, daß die Fahrtrichtung des Fahrzeugs, in der es liegengeblieben war, mit angegeben war (Auf der L103 hinter Brasdorf in Richtung Kollentin), und die findige Frau Perlich sah das sofort. „Sie sind also nicht nur gestern unentschuldigt ferngeblieben, sondern haben augenscheinlich auch die Unwahrheit gesagt über den Grund ihrer heutigen Verspätung. Das macht zwei Abmahnungen, zusammen mit der vom vergangenen Jahr...“

„Ich habe keine Abmahnung erhalten,“ warf ich sofort ein.

„Oh doch, sie wurden mehrmals darauf hingewiesen, daß die Artikel in unseren Publikationen nach den aktuellen Regeln zu gendern sind, das haben Sie unterlassen und sie wurden dafür abgemahnt. Hier steht es. Am 13.12. des vergangenen Jahres. Drei Abmahnungen innerhalb eines Jahres berechtigen zur fristlosen Kündigung.

„Das ist nicht rechtmäßig“ hörte ich mich sagen, war mir aber nicht so sicher.

„Das können dann ja die Anwälte unter sich ausmachen,“ erwiderte sie kalt lächelnd. „Ich weine ihnen jedenfalls keine Träne nach. Warum weigerten sie sich überhaupt, zu gendern? Ihnen mußte doch klar sein, daß wir ihren Sonderweg irgendwann gegen sie verwenden würden?“

Ihr Gesicht hatte sich verändert. Die professionelle Kühle war gewichen, und die letzte Frage war mit ehrlicher Neugier gestellt.

„Was soll ich sagen?“ antwortete ich. „Ich kann es einfach nicht leiden. Die Sprache kommt mir so gekünstelt vor. Gegenderte Texte mag ich nicht lesen und deshalb auch nicht schreiben.“

„Tja, wer nicht mit der Zeit geht, der geht halt mit der Zeit. Das war Ihre Entscheidung!“

„Eine betriebsbedingte Kündigung hätte es auch getan“ klammerte ich mich an einen letzten Strohhalm.

„Das kann ich nicht machen. In den nächsten Monaten wird hier alles auf den Kopf gestellt, und wenn ich dabei erwischt werde, alte Mitarbeiter begünstigt zu haben, dann ist meine Karriere in dem Unternehmen beendet. Aber dies hier“, sie zeigte auf meine Akte, “ist eine Empfehlung nach oben. Selbst dann, wenn sie mit ihrem Anwalt Recht bekommen, was ich aber bezweifele. Guten Tag. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Weg!“

Sie gab mir noch die Hand, und konsterniert ging ich hinaus. Eine fristlose Kündigung hatte ich in meinen schlimmsten Träumen nicht in Erwägung gezogen. Aber nun war es so, und ich musste mich mit der neuen Situation zurechtfinden.

 

Der Bus fuhr erst in zwei Stunden, und da ich nichts weiter zu tun hatte, schlenderte ich den Weg an der Promenade herunter zum See entlang. An einer Frittenbude kaufte ich mir ein Bier und setzte mich auf eine Parkbank. „Wie ein Penner“ dachte ich noch, aber heute war mir selbst das egal.

Weniger egal war mir, das Markus mit zwei seiner Freunde an mir vorbeischlenderte. Erst taten sie so, als würden sie mich nicht sehen, aber einer begrüßte mich dann doch: „Guten Tag, Herr Stone! Genießen sie die Sonne?“ Notdürftig versuchte ich, das Bier am Bein der Parkbank verschwinden zu lassen, aber das Manöver wurde bemerkt.

„Ja, ich sitze hier.“ sagte ich. Ich muss über ein paar Dinge nachdenken“ Ich war nicht daran interessiert, allzu redselig zu erscheinen, und so drehten sie sich wieder um und gingen weiter. Mein Sohn allerdings ließ es sich nicht nehmen, mir zum Abschied noch einmal zuzuraunen: „Du bist so peinlich, Papa!“ Und dann waren sie weg.

 

Es blieb dann nicht bei dem einen Bier. Ich nahm noch ein zweites und ein drittes, ließ den Bus vor meiner Nase wegfahren, und für den dreistündigen Heimweg per pedes besorgte ich mir noch zwei Flaschen Wein und eine Schachtel Zigaretten. Es stimmt, das der Alkohol die Probleme nicht löst, aber immerhin löst er einen von der Verstrickung in diese Probleme. Ich hatte lange nicht mehr getrunken, und war auch lange nicht mehr zu Fuß nach Hause gegangen, und ich dachte an ein Leben, das ich vielleicht geführt hätte, wäre ich Bea nicht begegnet und hätte statt einer Familie meine Freunde in den Kneipen der Stadt behalten, Dart spielen, Billard, kickern, Bier trinken, rauchen, in einer Stadtwohnung leben, die in zwei Stunden aufgeräumt und sauber ist. Ab und an eine Fahrradtour oder eine Spritztour mit Kumpels in eine andere Stadt zum Konzert. Das war ein Leben gewesen als ich jung war, keine Verantwortung, nichts anderes zu tun als das, was Pflicht und Lust vorgeben, arbeiten, frei, arbeiten, frei. Das war ja nun lange vorbei. Mit den Kindern wurden die Zigaretten aufgegeben, bald darauf auch der Alkohol, weil er einfach nicht mehr ins Leben passte. Wer verkatert ist, steht morgens nicht auf, aber die Kinder sind ja wach und der Tag will gelebt werden. Das Haus und der Garten mit den hundert Baustellen, die nur bearbeitet werden, wenn man an ihnen dranbleibt. Und so gewöhnte man sich daran, nicht zu trinken, nicht zu feiern, das Gute und Vernünftige zu tun, und die seelische Ausgeglichenheit mit Training zu befördern. Bea machte Yoga, ich fing an zu joggen und ging schließlich an die Kampfkunstschule, nicht, um zu kämpfen, sondern um mich fit zu halten. Sicherlich, bei geselligen Anlässen hatte ich immer mal ein Bier mitgetrunken, aber mehr als zwei hatten mir lange nicht mehr geschmeckt, und als ich jetzt fast volltrunken über die Straßen torkelte, war es wie eine Zeitreise in die Jugend, von der ich befürchtete, sie bitter bezahlen zu müssen. Aber es war ein wenig anders, die frische Luft und die Bewegung hielten mich aufrecht und leidlich nüchtern, als ich zu hause ankam, war ich weder verzweifelt oder euphorisch, noch erschöpft oder betrunken. Ich hörte mir die Vorhaltungen meiner Kinder an, und legte mich ins Bett. Was immer nun auf mich zukommen würde, ich würde es bis morgen aufschieben, und dann eine Bilanz meines Status machen. Das Leben würde ja weitergehen, so oder so.

 

2

 

Was hatte ich nicht alles vorgehabt an diesem Wochenende. Die Hecke am Zaun zurückschneiden, das Gewächshaus neu verankern, Rasen mähen und einen Steinplattenweg zur oft schmuddeligen Südseite legen, aber heute war nichts mehr wichtig. Während ich mir meinen Kaffee machte, zog ich eine erste Bilanz: Ob Bea noch hier wohnte, wusste ich nicht, vielleicht war ich schon alleine. Juliane war auf jeden Fall schon so gut wie ausgezogen, und Markus war in dem Alter, wo man als Erwachsener eh keinen Zugang zu hat. Im Grunde genommen gab es nur noch mich. Mein Job war gekündigt, und was das für meine Finanzen bedeutete, mochte ich mir noch nicht ausmalen. Ich würde Montag zum Anwalt gehen müssen, und die Sorge ihm übergeben. Ich selber müsste nun eben haushalten, und so wie es aussah, war das auch zu schaffen. Gut, die Steinplatten kaufte ich mir besser nicht, ich sollte keine Einkaufstouren mehr machen, keine Bücher mehr bei Amazon bestellen und das Auto am besten gleich auch abschaffen. meine persönlichen Besorgungen konnte ich auch per Rad, oder notfalls mit dem Bus machen. Eigentlich war das alles nicht so schlimm, im Gegenteil, es eröffnete mir eine Freiheit, die ich vor kurzem noch für endgültig verloren hielt. Ich begriff nun, daß ich tatsächlich ein freier Mensch war, und machen konnte, was ich wollte. Die Kinder brauchten nun keine großen Rücksichten mehr, und wenn Bea ihren eigenen Weg ging, nun, dann stand es mir ja auch frei, meinen eigenen Weg zu gehen.

 

Das war der Moment, an dem es an der Tür klingelte. Draussen stand mein neuer Nachbar, der fragte, ob er mich nicht zu einem kleinen Frühstück einladen könne, um sich für die Hilfe von vorgestern zu revanchieren. Ich wusste erst gar nicht, von was er redete, dann erst fiel mir ein, wie ich ihm geholfen hatte, und in Anbetracht meiner neugewonnenen Freiheit nahm ich seine Einladung gerne an. Wenn sich die eine Tür schließt, tut sich eine andere auf, an diesen Spruch dachte ich noch, und entdeckte ein mulmiges Gefühl in mir, das daher rührte, daß ich immer versucht hatte, allzu engen Kontakt mit Nachbarn zu vermeiden, um nicht Teil des nur oberflächlich durch tätige Hilfe verbrämten Netzes von Tratsch und Mißgunst zu werden, das in jedem der hiesigen Dörfer die Dorfstrukturen bestimmte. Aber wie dem auch sei, indem ich mich raushielt, verhinderte ich nicht, daß man über mich sprach, nur, daß ich davon wusste, was über mich gesprochen wurde. Ich hätte mich längst mitteilsamer im Dorf zeigen sollen und beschloß, meine Zurückhaltung hier und heute, angefangen bei meinem neuen Nachbarn Ross, aufzugeben.

 

Er hatte seine Küche schon fertig eingerichtet, sparsam, zweckmäßig und offensichtlich fertig. Die Spüle stand, daneben der Kühlschrank mit einem Wasserkocher, dann einige Regale mit Geschirr, Lebensmitteln und Gewürzen. Ein Tisch mit einer soliden Holzplatte stand in der Mitte und drei Stühle drumherum, einer aus Holz und zwei aus Plastik. Er bot mir den Holzstuhl an, und ich setzte mich, während er mir eine Tasse Kaffee eingoß und dann mit den Vorbereitungen für das Frühstück begann. „Du hast getrunken!“ stellte er fest. „Vorgestern dachte ich, du wärest kein Trinker. Ist was passiert?“ Er fragte unschuldig, wie beiläufig, aber er hatte so genau meinen gegenwärtigen Zustand analysiert, das ich gar nicht erst den Versuch machte, etwas zu verstecken.: Meine Frau hat betrügt mich, meine Tochter zieht aus, meinen Job habe ich verloren, mein Sohn verachtet mich und das Auto ist kaputt.“ erklärte ich lapidar.

„Oh“ sagte er nur. Er schnitt gerade einen Apfel, präzise, schnell und schmucklos legte er die Scheiben auf einen Teller und stellte ihn vor mich. „Ich habe festgestellt, daß die Leute einen ganzen Apfel nicht nehmen, aber wenn man ihn aufschneidet, essen sie die einzelnen Stücke, bis der ganze Apfel dann doch weg ist.“

„Das System kenne ich von meinen Kindern“ sagte ich.

„Ja“ lachte er, „Menschen sind wie Kinder, nicht wahr?“

Ich dachte erst, daß er sich über mich lustig machen wollte, aber als er sich nun lächelnd hinsetzte, mit seinem offenen, neugierigem Blick, verwarf ich diesen Gedanken. Langsam dämmerte mir, daß mein Nachbar einfach die Dinge so ausssprach, wie er sie sah, und damit eher ein zuwenig an sozialer Angepasstheit verriet, als ein zuviel an Tricks und Spielchen. Es war nun an mir, zu fragen:

„Und, was verschlägt Dich hierher, nach Meckelnburg?“

In Mecklenburg ist das Siezen nicht sehr geläufig. Es wird nur in förmlichen Zusammenhängen angewendet, im Dorf duzen sich alle untereinander, und wenn man sich nicht gut genug dafür kennt, dann weicht man aus, indem man dem Gesprächspartner in der dritten Form anspricht: „Was treibt ihn denn hierher?“ hätte ich also sagen können, wäre mir daran gelegen, die Bekanntschaft nicht weiter zu vertiefen, aber ich bezweifelte, das Ross derartige Feinheiten der Mecklenburger Mundart beherrschte.

„Oh, das ist eine lange Geschichte“ sagte er gleich. Ich wünschte, ich könnte das ganz einfach erklären.“ sagte er ausweichend.

„Die Kurzversion reicht“ ermutigte ich ihn. Irgendetwas würde er mir schon anzubieten haben.

„Mir wurde Ruhe verordnet“ sagte er dann. Ich antwortete nicht. Da musste noch etwas kommen. Er setzte sich etwas aufrechter hin, schloss kurz die Augen und rezitierte dann.: „Ich arbeite als Genetiker, aber jetzt gab es Differenzen mit meinem Arbeitgeber, weil das Projekt nicht vorankommt, und wir einigten uns auf ein Sabbatjahr.“

„Was für ein Projekt denn?“ fragte ich nach.

„Über Wasserfrösche“, erklärte er knapp und blickte dann zur Seite. Die Lüge war so hilflos wie sein Versuch, sie zu verbergen. Juliane konnte mit 4 Jahren überzeugender flunkern, und Markus spätestens, seit er in der Schule war.

„Ich weiß nicht, was an dieser Geschichte nicht stimmt“ sagte ich nur. „Du brauchst mir ja auch nicht alles zu erzählen.“ Ich schlürfte an meinem Kaffee und überlegte, aufzustehen und zu gehen. Aber Ross schien beinahe dankbar zu sein, daß ihm auf die Schliche gekommen wurde.

„Es ist wirklich geheim“ murmelte er nur, „deshalb kann ich eigentlich gar nichts sagen.“ „Auf einmal sah er mir in die Augen: „Ich finde es so schwierig, nicht die Wahrheit zu sagen! Ich finde das ganz und gar unmöglich. Deshalb wäre es gut, wenn du nicht weiter fragst.“

Ich lachte laut auf. „Ha! jetzt soll ich aus Rücksicht auf Dich, Dich nicht fragen, warum du hier bist? Wie du antwortest, das ist deine Sache, aber mein Mund gehört mir. Ich frage nach dem, was ich wissen will, ganz einfach!“

„Ja“ antwortete er nachdenklich und verstummte.

 

Wir saßen eine Weile nebeneinander, und da das zweckmäßige Frühstück nun verspeist war, hätte ich auch aufstehen, mich bedanken und gehen können. Das hätte mich aber auf mein leeres Haus zurückverwiesen, in dem es vorgestern noch so viel zu tun gab, daß heute aber nicht mehr als das sinnentleerte Monument eines verfehlten Lebens war, dem ich gerne noch länger fernblieb. Über mich wollte ich nicht erzählen, die Fragen zu ihm führten auch nicht weiter, also wechselte ich zur politischen Betrachtungsweise: „Also, wenn du mich nach meiner bescheidenen persönlichen und unrelevanten Sichtweise fragst, ich halte Geheimnisse für schlechterdings nicht vereinbar mit der Demokratie. Wie soll ich jemanden wählen, dem ich die Geschicke des Landes anvertrauen mag, wenn ich gar nicht weiß, wie diese Geschicke tatsächlich aussehen. Eine Wahl kann ich sinnvoll nur dann treffen, wenn mir alle Informationen zur Verfügung stehen, die ich für die Wahl brauche.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Na, mit dir ist es doch genau dasselbe. Du bist zur Geheimniswahrung angehalten, was okay wäre, solange es nur deine Firma betrifft, aber es betrifft ja auch dich. Wie willst du dich mit anderen Menschen austauschen und unterhalten, wenn du relevante Informationen nicht preisgeben darfst. Du bist ja auch nicht der Einzige, dem das so geht, im Gegenteil, immer wird Verschwiegenheit verlangt, allein schon wegen des Lohns: Wenn ich nicht erzählen darf, was ich bei einem Arbeitgeber verdiene, dann muss ich also bei allem, was ich jemanden von mir erzähle, immer darum herumreden, daß heißt, alle die Informationen, die ich herausgeben kann sind verfälscht, weil es eine Information gibt, die ich zurückhalten muss. Ich kann also nicht frei sprechen, mir ist der Mund verboten, ich bin ein Sklave, genaugenommen.“

Ross: „Ja, so kann man das sehen.“ Ross schien unbeeindruckt ob meiner steilen These. Er ging zum Wasserkocher und füllte Wasser nach. „Magst du noch einen Tee?“

„Ja, gerne. Wie siehst du denn das?“

„Naja,“ er zögerte etwas. „Sklaven sind eigentlich gar nicht so schlecht dran. Sie werden versorgt und müssen nur das tun, was man ihnen sagt. Das ist ein sehr einfaches Leben.“

Ich nahm seine steile These weniger gelassen auf: „Was? Du verteidigst die Sklaverei?“

Er sah mich irriteiert an. „Ne. Davon habe ich nichts gesagt. ich habe gesagt, daß ein Sklave garnicht so schlecht dran ist.“

„Also verteidigst du die Sklaverei!“

„Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun. Ich habe etwas über einen hypothetischen Sklaven gesagt, nichts über den Sinn der Sklaverei.“

„Aha. Und was ist da nun der Unterschied?“ Irgendwie musste man ihn doch zum Reden bringen können.

„Der Sklave ist ein Mensch wie du und ich. Er hat keine Freiheit, was vielleicht schlecht ist, aber dafür ist er versorgt, und wenn er in einem Gemeinwesen lebt, dessen moralischer Kompass funktioniert, dann ist sein Leben nicht nur erträglich, sondern auch sorgenfrei und gut. Die Sklaverei hingegen, ist ein System, mit dem Menschen sich als Herrscher über andere Menschen stellen, und daran kann ja nichts gutes sein.

„Du hast doch gerade gesagt, dem Sklaven kann es gut gehen.“

„Ja, dem Sklaven. Aber nicht dem Sklavenhalter. Der schwingt sich auf zum Herrn über Andere, und das ist eine Verantwortung, der er niemals gerecht werden kann, also wird er verbittert, oder wenigstens unglücklich, entfremdet sich von sich selber und stirbt einsam.“

„Dann hat es der Sklave Deiner Ansicht nach besser, als der Sklavenhalter?“

„Ja, das kann man wohl so sagen. Ein Sklave kann glücklich sein, ein Sklavenhalter nicht.“

„Aber ein Sklave kann auch sehr unglücklich sein. Dann nämlich, wenn er von morgens bis Abends Fronarbeit machen muss und nach wenigen Jahren an Erschöpfung stirbt.“

„Ja, das ist wahr.“

Und wieder schwiegen wir. Ich war nicht unbedingt überzeugt von seiner These, wußte aber nichts, was ich noch dagegen sagen sollte, nachdem er meiner letzten Entgegnung so vorbehaltlos zugestimmt hatte. Jetzt wollte ich gehen, nun hatte ich aber eine Tasse heißen Tees vor mir und mußte diese noch hinunterschlürfen.

„Wirst du denn hier irgendwo arbeiten?“ fragte ich hilflos. Er hatte mir noch immer eigentlich nichts über sich erzählt.

„Vielleicht, ich weiß noch nicht. Ich werde mich hier erstmal einleben, und wer weiß, was dann kommt. Vielleicht jobbe ich irgendwo ein wenig. Am Besten schwarz, das ist einfacher. Aber erstmal muß ich mein Haus fertigmachen.“

„Oh, na dann viel Spaß!“ Das Haus in dem er lebte war eine einzige Ruine, an der so gut wie alles neu gemacht werden musste. Aber das war nicht mein Problem. Ich ließ mir noch erklären, wie und womit er anfangen wollte, dann hatte ich meinen Tee endlich fertig, bedankte mich höflich und ging zurück zu meinem Haus, in dem ich nicht sein mochte.

 

Ich lenkte mich ab, indem ich mich im Internet über Sklaverei belas. Die Sklavenhaltung und den Sklavenhandel. Und Sklaven als in den Haushalt integrierte Diener mit eigenen Rechten , sozial abgesichert und aufgefangen von einer Gemeinschaft, die sich um die Ihren kümmert. So wie es hätte gewesen sein sollen. Aber wann war schon etwas so, wie es sein sollte. Jedenfalls dies nicht: Die Weißen landeten an, und zwangen mit ihren Feuerwaffen die locals, ihnen die jungen und arbeitskräftigen Mädchen und Burschen auszuliefern, um sie in ein fernes Land zu verschleppen, aus dem sie nie mehr wiederkehren würden. Der Krieg ist seit 5000 Jahren der Begleiter des Menschen, aber das war neu. Schon immer hatten marodierende Wikingerbanden die Menschen der Länder, in denen sie landen konnten, unterjocht und versklavt, aber daraus bauten sie dann wieder eine neue Gemeinschaft, und die neuen Sklaven hatten ihren Platz darin ebenso wie jeder andere, der mal besser, mal schlechter behandelt wurden, je nachdem, wes Charakter die Clanchiefs waren, und welcher Laune sie nachhingen. Die Raubzüge waren ja fast schon als Prävention zu sehen: Wenn ich dem Nachbarn erlaube, selber zu stark zu werden, fängt er vielleicht irgendwann an, mich zu überfallen. Immer wieder überfallen Menschen ihrer Nachbarn Länder, versuchen, sich zu holen, was sie kriegen können und sind nicht zufrieden mit dem, was sie haben. Irgendwann war die Welt zu eng geworden für uns alle, jedenfalls dachten das die Gierigen unter den Mächtigen. Das alles hatte irgendwann mal angefangen, und war schlimm genug, aber in einer schlimmen Welt konnte auch das Los eines Sklaven erträglich sein, nicht schlechter jedenfalls, als in eigentlich vergleichlicher Lage befindliche Frauen und Kinder in einer Patriachatsgesellschaft, die auch rechtlos sind, die auch abhängig sind von der Gnade des Mannes in dessen Gewalt sie sich befinden. Dagegen die Vorstellung, Menschen gezielt zu jagen und einzufangen, um sie als Ware zu verkaufen - ich merke schon, auch das hat es schon lange gegeben. Woher hat denn der Pharaoh seine Menschenmassen hergenommen, die er zum Pyramidenbauen brauchte?

Wann war denn die Welt noch in Ordnung gewesen? Vor der Bronzezeit? Als es noch keine Schrift und keine Städte gab? Das stelle ich mir als die schönste Zeit der Menschheitsgeschichte vor: Die Menschen, die jahrtausendelang in den fruchtbaren Auen von ihren Feldern und Herden lebten, und sich angelegentlich trafen, wenn sie Zeit hatten, riesige Menhire übers Land zu schaffen um coole Kultplätze zu bauen. Aber als dann jemand auf die Idee kam, Steine zu schmelzen und Waffen zu schmieden, wurde die Welt eine andere... Die unbelegten kriege der Ägypter, die minutiös dokumentierten Schlachten der Babylonier und Assyrer, die Beherrschung des Mittelmeeres der Minoer, clevere Griechen, organisierte Römer, wilde Angelsachsen, brutale Mauren, Reitervölker aus dem Osten. Aber dann: Einem Land kaltblütig die Menschen abziehen, um sie fortzuschleppen, ohne jede Eroberung, ohne neue Gemeinschaft, die aus Eroberern und Besiegten zusammen besteht, plündern ohne zu herrschen, rauben und morden aus reiner Habgier, das war eine neue Art des Verbrechens.

 

Vor 7000 Jahren war die Welt noch in Ordnung. Da lebten am schwarzen Meer Frauen, die Bildnisse auf ihren Öfen schufen, um das heilige Feuer zu nähren. Sie malten sich Zeichen auf Schmuckstücke und erzählten sich die Geschichten von der großen Sintflut. Die war vor 8600 Jahren, als am Schwarzen Meer in der warmen Senke ein üppiges Dschungelleben sich entfaltete. Die schmelzenden Eismassen Sibiriens flossen in das heiße Tal hinab, wo die Menschen in paradiesischen Zuständen lebten. Die Flut kam vom Bosporus. Die Erde bebte, und dann kamen die Wassermassen und begruben das ganze tiefe Tal unter sich. Davon erzählte man sich. Das war zweifellos einmal passiert, denn an klaren Tagen konnte man am Grund des Sees noch Reste alter Dörfer oder Baumriesen sehen. Nun lebten sie am prächtigen Donaufluss und hatten ihren Frieden mit den Geistern gemacht.

Vor 7000 Jahren lebten an der Westküste des Kontinents Europa Fischer und Bauern, die Dolmensteine aufeinanderbauten, weil sie es konnten.

Vor 7000 Jahren lebten in Skandinavien Robbenjäger und Bauern harmonisch miteinander, und im ganzen weitem Osteuropa gab es Menschen des alten und des neuen Typs, die alten Jäger und die neuen Bauern, und es war genug Platz für alle da.

 

Mein Sohn riss mich aus meinen Gedanken. Er stand auf einmal in der Tür und sagte, daß er jetzt nach Berlin fahre, zu Mama. Was? murmelte ich, noch bevor ich die Wörter überhaupt in meinem Kopf zu einem sinnvollem Ganzen sortiert hatte.

Ich fahr zu Mama. Der Bus fährt in zwanzig Minuten. Ich bleib da erstmal!

Was meinst du denn damit?

Na, das erklär ich dir später, ich muss los, rief er noch und verschwand. Es war ihm ganz offenbar wichtig, das Gespräch so kurz wie möglich zu halten und am liebsten wäre er wohl ohne etwas zu sagen entwischt, aber das wollte er dann doch nicht. Ich hörte ihn noch, wie er seinen Rucksack aufsetzte, und eine Jacke in die Hand nahm, dann war er aus der Tür verschwunden.

Ich war allein. Benommen stand ich im Hausflur umher, und wusste nicht, was ich machen sollte.

Ohne weiter nachzudenken ging ich auch raus auf die Straße, und ging das Dorf hinab, zur Bushaltestelle, wo Jakob noch saß.

Er guckte mich schräg von unten an: „Ist was?“

Ich setzte mich neben ihn. „Du fährst zu deiner Mutter?“

„Ja“

„Wann kommst du denn wieder?“

„Ich komme nicht wieder, Papa! Ich bleibe bei Mama!“

Er sah mich traurig an, und ich merkte, daß ich schon lange in meiner eigenen Welt gelebt haben musste und nichts von dem wusste, was meine Familie mittlerweile bewegte. Ich verstand nicht, warum das so war, aber ich verstand, das ich wieder von vorne anfangen musste. So wie Jakob.

„Hast du das schon länger geplant?“

„Nein, das heißt ja, auf einmal ging alles ganz plötzlich. Mama hat diese neue Wohnung, und da gibt es ein Zimmer, das kann ich haben, wenn ich möchte. Und ich möchte. Ich möchte gerne in Berlin leben.“

Das kann ich verstehen, dachte ich bei mir. Nicht, das ich nach Berlin gewollt hätte, ganz im Gegenteil, ich war froh, das ich auf dem Dorf meine Ruhe hatte, aber Jakob war jung, und er versauerte hier. Versauerte ich denn hier? Ich fing schon wieder an, meinen Gedanken nachzuhängen und merkte, wie ich mich dabei von Jakob entfernte. Das hatte ich wohl in den letzten Jahren zu oft gemacht.

„Ich wünsch dir alles gute“ sagte ich dann. Der Bus kam von hinten durchs Dorf gescheppert.

„Danke , Papa“ sagte er und stand auf. Es war nichts Schlechtes zwischen uns, er hegte keinen Groll zu mir, und ich keinen zu ihm, aber mein Herz wollte fast zerspringen, als er dann in den Bus stieg. Ich hätte heulen können, hätte ich noch Tränen gehabt. Aber ich hatte schon Jahre nicht mehr geweint. Vielleicht war heute ein Tag dafür, aber der Bus fuhr los und ich war zu vertrocknet, um weinen zu können. So ging ich wieder zurück.

 

 

3

 

Ross ist kein geselliger Mensch. Er akzeptiert Leute um sich herum als Übel, das er zu ertragen hat und ist lieber allein. Das ist bei ihm nicht so sehr ein schrulliger Rückzug ins Private, vielmehr weiß er nur zu gut, wie er auf die meisten Menschen wirkt, und er sucht nur nach Möglichkeiten, nicht anzuecken, und das fällt ihm immer wieder schwer, einfach weil er so viel aufmerksamer ist. Seine Augen beobachten aller ganz genau, und ihm entgeht weder das schmutzige Hosenbein, noch die alte Narbe. Er sieht Dir an, wie alt du bist, ob du zufrieden bist oder verliebt, welchen sozialen Background, welche aktuellen Beschwerden; dabei will er es noch nichtmal wissen. Eine Person kommt herein, und er scannt sie durch, liest jede Einzelheit ab, die sich ablesen lässt, dann wandert sein Auge weiter und registriert die nächsten Informationen, die es zu registrieren gibt. Er merkt sich das nicht, aber er weiß es dann eben. Und wenn er dann plaudert, über dieses und jenes, dann geht er ganz instinktiv davon aus, das das ja auch jeder andere im Raum weiß, weil jeder hat ja Augen, mit denen sich sehen lässt. So kommt es. Und mittlerweile hat er sich abgewöhnt, zu reden, weil es einfacher ist. Er antwortet nur darauf, wonach er gefragt wird und fühlt sich darin sicher. Das alles wusste ich natürlich noch nicht, als ich an jenem Nachmittag an seine Türe klopfte. Ich hatte keine Ausrede parat, kein lietgmeinSchlüsselnochhier, kein dukannstgernespäterrüberkommen, ich hoffte einfach, er würde aufmachen. Oder hoffte ich das Gegenteil? Wieder unbemerkt nach Hause zurückschlüpfen, in die heimische Höhle, in das heimliche Nest.

„Ich hab mir schon gedacht, das du kommst! sagte er nur, und lies die Tür offen stehen, während er einen Schritt zurücktrat, um mir Platz zu machen und hereinzubeten.

„Ich mach uns noch einen Tee“ fügte er hinzu, und wirkte so ehrlich anteilnehmend und betroffen, daß ich mich schon wunderte, wie er so genau meine Gemütslage erfassen konnte, aber dann sprach er kein Wort mehr darüber. Während der Wasserkocher kochte sprachen wir kein Wort. Ich saß an seinem Küchentisch, er goß zwei Tassen auf, stellte sie auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber.

Immer noch sagte er nichts. Er saß da und sah mich an, nicht fordernd, aber aufmerksam.

„Jakob ist gerade los, er hat den Bus genommen und fährt zu seiner Mama“ fing ich an, ohne zu wissen, was ich sagen wollte, und es war auch ganz unsinnig, weil er ja gar nicht wissen konnte, wer Jakob ist, aber da hatte ich mich getäuscht.

„Dein Sohn ist heute fortgezogen“ stellte er fest, „und das ist heute ein ganz besonders trauriger Tag für dich, und du willst ihn nicht gerne allein verbringen. Das hab ich schon verstanden.“

Ich sah ihn an und eine plötzliche Wut kochte in mir hoch. Was bildete er sich ein! Aber ich verstand auch, das er recht hatte und fügte mich drein, was er mir, wie er mir später erklärte, hoch anrechnete. Denn er hatte auch das gesehen, die plötzliche Wut, die kurzentschlossene Entspannung bei der Einsicht. „nicht jeder wagt es, der eigenen Wahrheit so ins Gesicht zu schauen“, hatte er gesagt, aber das war später. Jetzt redete er aber weiter, denn er war noch nicht fertig. „Der Punkt ist, ob ich denn überhaupt bereit dazu bin, meine Zeit mit Dir zu teilen. Das mache ich gerne, vorausgesetzt, es ist interessant, sich mit dir zu unterhalten. Vorhin hatten wir ja eine interessante Unterhaltung geführt, da können wir gut anknüpfen. Aber glaube mir, die Geschichte von Deinem Sohn, die möchte ich nicht hören. Händchen halten kann ich nicht. Ich kann nur reden. Und das nichtmal gut.“ Er sah mich fragend an, ob ich eine Entgegnung hatte, aber ich war viel zu verwirrt, angesichts dieser direkten Ansprache, und sah ihn nur unverwandt an, so daß er fortfuhr: „Mach dir nichts draus, das geht vielen so. Ich arbeite als Verhaltensgenetiker, da wird man wohl etwas seltsam. Der Punkt ist, ich würde dir gerne etwas darüber erzählen, aber das darf ich nicht, weil das alles streng geheim ist. Ich muss also auch drumherum reden. Wenn wir nun also nach einem Thema suchen, das wir beide nur wählen, um uns nicht über das zu unterhalten, was uns eigentlich bewegt, sollten wir das Thema so wählen, das wir uns auch darüber ereifern können, und damit wären wir bei der Politik.“

„Oh Gott, nein“ entfuhr es mir spontan. Das war das letzte, was ich nun gebrauchen konnte. Die politischen Machenschaften hingen mir so zum Halse raus, und seit einem halben Jahr hatte ich es abgelehnt, überhaupt noch eine Meinung zu haben. Aber er hatte genau hingehorcht. „Nein?“ fragte er nun. „Warum denn nicht? Warum: oh Gott, nein!“ Ich hatte Mühe, meinen eigenen Tonfall nicht wiederzuerkennen, wie er meine Worte imitierte. Aber darauf durfte ich jetzt nicht reagieren, sondern es war die Haltung zur Politik gefragt. Und da hatte ich jetzt was, an dem ich mich festhalten konnte.

„Ich kann dir sagen, wie ich zur Politik stehe“ sagte ich.

„Na, dann las mal hören.“ Ross lehnte sich gemütlich zurück, die warme Tasse in den Händen haltend.

Und ich? Wie anfangen? „Politik ist...“ schon falsch. „...ich kann nur von mir reden“ setzte ich unzusammenhängend fort, “...ich weiß nicht“, weil ich nicht wusste wie ich anfangen sollte, zu erklären, was ich auch noch nicht wusste, was es denn nun war. Frieden ging mir durch den Kopf, Liebe sogar, aber was sollte das denn sein, eine Politik der Liebe? Aber dann setzte mein Schalter ein, der das Reden aktivierte, ohne den Umweg übers Gehirn zu nehmen, und ich plapperte einfach drauflos: „So wie ich das sehe, sind sämtliche Politiker, die ganzen Parteien, der Staat, und alles was damit zusammenhängt, einfach ein bürokratisches Problem, irgend so ein System, das sich selbst erschaffen hat, und von dem man nicht weiß, wie man es loswird. Ich glaube nicht, das auch nur einer von denen, die sich in dieses Geschäft begeben, darin nicht getrieben ist von den Dynamiken der Macht, die diese ganze Maschinerie am Laufen halten. Alles, was die anfassen, kriegt eine komische Richtung und wird schief. Ich weiß selber nicht, warum das so ist, und wahrscheinlich ist das auch total ungerecht, die Politiker im Einzelnen, die machen ja auch nur das beste, was eben möglich ist, sie engagieren sich, sie vernetzen sich, sie schaffen Möglichkeiten, ja, alles super, aber im Großen und Ganzen kommt da nichts Gutes bei raus.“

„So hoffnungslos?“ bot er mir an, weiterzureden.

„Nein, nicht hoffnungslos“ dementierte ich natürlich. „Aber traurig. Und dann langweilig. Im Grunde sind das ja alles verlorene Seelen, die den Heimweg nicht finden.“ Das meinte ich ernst. natürlich konnte man sich über alles aufregen, was in den Schlagzeilen gebracht wurde, aber wozu? Das waren nur die aufmerksamkeitsheischenden Hilferufe der Zugrundegehenden. Deshalb wollte ich nichts mit Politik zu tun haben.

„Hm“ sagte er, und kratzte sich am Kopf. „Das sehe ich ähnlich. Aber aus anderen Gründen. Man sollte sich nicht in die Politik einmischen. Aber nicht, weil die Politiker es nicht richtig machen, oder Skandale passieren und die Macht mißbraucht wird. Politiker sollten Politik machen. Ich möchte auch nicht, daß irgendein dahergelaufener Besserwisser mir sagt, was ich zu tun habe. Ich denke, wenn man nicht gerade Politiker ist, und sich von daher intensiv mit der Materie befasst, dann sollte man so ehrlich sein und zugeben, daß man zu wenig Ahnung hat, um sich eine fundierte Meinung bilden zu können..“

„Du hattest aber vorgeschlagen, das wir über Politik reden!“ wand ich ein.

„Nun, als Gesprächsthema mag es verschiedene Zwecke erfüllen. Natürlich kann man über alles reden, solange man sich kein Urteil anmaßt über die, die es nunmal besser wissen, weil sie sich mehr damit beschäftigen. Auch mit meinem Arzt kann ich zufrieden oder unzufrieden sein, aber ich kann nicht wissen, ob er seine Arbeit gut macht oder nicht.“

„Wenn er dir hilft, macht er seine Sache gut.“

„Das ist doch albern. Wenn ich gesund werde, kann das an dem Arzt liegen, oder daran, daß ich eh gesund geworden wäre. Wenn ich krank bleibe, dann weiß ich immer noch nicht, ob er einen Fehler gemacht hat, oder ob mir eben in dem Moment nicht besser zu helfen ist. Wie soll ich beurteilen, was der Arzt mit mir macht, wenn ich die Sachen, die er macht, nicht verstehe?“

„Wer gesund werden will und deshalb zum Arzt rennt, dem ist eh nicht zu helfen,“ wand ich ein, „Gesundheit muss man sich erarbeiten. Der Arzt ist nur dazu gut, Krankheiten zu bekämpfen!“

Ross sah mich an, mit einer Art neugieriger Überraschung, er sagte aber nichts. Er ging zum Wasserkocher und setzte neues Teewasser auf.

„Du hast interessante Ansätze“ sagte er dann. „Deine Thesen zur Gesundheit interessieren mich. Das mußt du mir mal erläutern.“

„Also keine Politik mehr?“

„Ich bin froh, wenn wir die verlassen können!“

„Aber nun muss ich erstmal fragen, bevor ich mich mit meinem Halbwissen lächerlich mache: Hast Du beruflich mit Gesundheit zu tun? Bist Du neugierig, weil Du Bescheid weißt, und wissen willst, wie ich das sehe, oder bist Du neugierig, weil Du keine Ahnung hast und gerne welche hättest?“

Er grinste breit: „Ich sehe, du stellst die richtigen Fragen. Es ist sehr angenehm, mit einem Menschen zu diskutieren, der die richtigen Fragen stellt. Das habe ich nicht oft.“

„Danke“ gab ich zurück, und fühlte mich ermutigt und geschmeichelt.

„Aber um Deine Frage zu beantworten: Ich bin Genetiker. Also weiß ich gut genug Bescheid über Körperfunktionen, ich weiß, wo was ist und wie es funktioniert. Allerdings bin ich weder Arzt noch Heilpraktiker. Aus meiner Warte ist Gesundheit eine ungestörte Funktionalität der Gene, aber das ist mehr eine technische Definition, begrenzt durch die Bedingungen meines Fachs. Ich gucke aber auch gerne über den Tellerrand, und deshalb interessiert mich Deine Meinung.

„Dann bin ich also in der unglücklichen Lage, jemanden belehren zu müssen, der mehr weiß als ich. Das ist immer ungünstig. Aber soviel kann ich beitragen: Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen. Keine Krankheit zu haben, bedeutet noch lange nicht, gesund zu sein. Gesundheit ist positiv zu definieren, und zwar als die Fähigkeit des Körpers, mit der Umwelt zu schwingen. In „Gesundheit“ steckt das Wort „sound“ mit drin. Ein gesunder Körper ist ein guter Resonanzboden für alle Arten von Schwingungen. Er klingt, er hat einen Sound. Und diesen Sound kann man trainieren, indem man entspannt und kraftvoll lebt. Kannst du soweit mitgehen?“

„Ja schon, aber ich habe noch kein richtiges Bild. Ich weiß, wie man trainiert, um etwa stärker, oder schneller, oder geschickter zu werden. Aber wie trainiert man Gesundheit? Ist Gesundheit nicht das, was als Summe entsteht, wenn ich alles andere gut im Griff habe?“

„Alles Andere ist gut. Das ist mehr, als sich in einem Menschenleben schaffen lässt.“

Wieder lachte er. „Gut, dann erzähl mal: Wie trainierst Du Deine Gesundheit?“

„Alles was ich ab jetzt sage ist falsch und kann gegen mich verwendet werden. Wenn ich jetzt erzähle, daß ich morgens meditiere, muß ich mich daran messen lassen, daß ich auch tatsächlich jeden Morgen meditiere, und wenn ich es denn nicht tue, strafe ich mich selber lügen, also wird die Meditation von nun an dazu dienen, mich selbst zu bestätigen, zu beweisen, daß ich es tatsächlich tue, und damit ist der reine Zweck der Meditation natürlich schon vergeben. Ich werde das merken, und bald aufhören zu meditieren, weil es nichts bringt, an Übungen festzuhalten, die man zur Bestätigung des Egos durchzieht Aber wenn ich nicht mehr meditiere, freut sich mein Ego natürlich insbesondere. Aber ich habe auch andere Übungen. Vielleicht werde ich dann wieder mehr QiGong machen, meine Körperbewegungen, die mir gut tun, die meinen Qi-Fluss anregen, aber auch damit werde ich, sobald ich davon rede, auch wieder aufhören, und, nur um zufrieden zu sein, weil ich zur Zufriedenheit auch körperliche Betätigung brauche, werde ich wieder laufen gehen, oder Fahrrad fahren, nicht meine täglichen Wege, einfach so eine Runde um die Dörfer, und auch das tut eine Zeitlang sehr gut, bis der sportliche Ehrgeiz geweckt wird, und mit dem falschen Ehrgeiz kommen auch irgendwelche Malessen, die das wieder unmöglich machen, ein wunder Fuß, ein schmerzendes Knie, und alles hat seine Bedeutung, das Knie tut weh, weil ich irgendwo Recht behalten will, anstatt mich zu entschuldigen, der Fuß tut weh, weil ich nicht richtig auf der Erde bin, der Magen tut weh, weil ich irgendetwas nicht verdauen will, undsoweiter, undsoweiter, bis dahin, das ich dann nichts mehr tue, vielleicht mit der Ausrede, ich würde ja jetzt im Garten arbeiten und auch das ist Bewegung und Verausgabung, aber dann ist das Wetter schlecht und ich verbringe einen ganzen Tag vor dem Computer, dann einen zweiten und einen dritten, und um rauszukommen und etwas anderes zu sehen gehe ich dann in die Stadt einen trinken, und rauchen tue ich dann auch womöglich, und im Grunde geht es mir ziemlich schlecht, obwohl ich mir das nicht eingestehen werde, erst wenn ich eines Tages zuhause aufwache und merke, das mir mein Leben wieder aus dem Ruder gelaufen ist. Das ist der Punkt, an dem ich mich wieder hinsetze, um zu meditieren. So oder so ähnlich geht das. Wenn ich genau bin, dann sind die ersten zwei Stunden des Tages mit Übungen weg, aber das durchzuziehen, habe ich meistens keinen Bock.“

Ich hatte aus dem Bauch heraus geredet, und wusste nicht, ob ich einen Zusammenhang hergestellt hatte oder nur Gedanken aneindergereiht, aber Ross schien es zufrieden. „Mehr kann man nicht machen“ sagte er nur und versank in Schweigen. Da auch ich nichts zu sagen wusste , schwiegen wir eine Weile.

„Wenn du trinken willst, bin ich nicht mit dabei“ stellte er fest. „Ich weiß, das ist ein probates Mittel, um Geselligkeit aufzubauen, aber ich hab da nichts von. Ich vertrag es auch nicht.“

„Ich will nicht trinken“ stellte ich klar, und merkte, daß ich sehr gerne jetzt einen starken Schnaps trinken würde. Die Sonne war jetzt untergegangen, bald würde es dunkel werden, und ich wollte nicht den Abend bei Ross verbringen. Ich fand, wir hatten genug geredet. Das sagte ich auch, verbunden mit der Aussicht, bald mal wieder so ein Gespräch zu führen.

„Da lasse ich mich gerne drauf ein“ sagte er. Wir gaben uns die Hand. Seine Hand fühlte sich stark und fest an, wie die eines Mannes, der anzupacken versteht. „Ich hoffe, ich habe dich nicht von deiner Arbeit abgehalten“, fügte ich hinzu.

„Ich arbeite zur Zeit nicht. Aber hier im Haus werde ich einiges richten. Eins nach dem Andern, nichts drängt zur Eile!“

Und so verabschiedete ich mich für einen Abend eines einsamen Besäufnisses. Ich hatte nichts besseres zu tun.

 

4

 

Aber eigentlich mag ich gar nicht trinken, und auch wenn es im Haus immer genug Alkohol gibt, alleine die Weinflaschen, die zu Geburtstagen und Weihnachten verschenkt werden, selbstgemachte Liköre und auch der medizinisch wirksame Johannisbeerschnaps, den ich mir selber angesetzt hatte, all das waren die Möglichkeiten, aber ich mag nicht trinken. Am anderen Tag hatte ich Bier getrunken, und das kann durchaus mal angenehm für die Nerven sein, am Nachmittag, in der frischen Luft, aber jetzt, bei mir zu Hause, kam mir das so traurig vor, einen Wein aufzumachen, das ich es gleich ließ. Eine kleine Likörflasche trank ich allerdings aus, und dann setzte ich mich hin und las in der Bibel. Das hatte ich bestimmt zwanzig Jahre schon nicht mehr gemacht, aber ich erinnerte eine Zeit, als ich ähnlich einsam und verloren war, und damals hatte die Bibel sehr geholfen. Die Bibel ist zunächst mal ein sehr dickes Buch. man kann nicht hoffen, sie in einer Nachtsitzung durchzulesen, und steht dann am nächsten Tag ohne Folgeband da. Und der Ton, in dem die Bibel gehalten ist, ist musikalisch, es ist immer ein gewisser Singsang darin. Man darf nicht darauf hoffen, interessante Geschichten zu lesen, denn die sind zwischen den ganzen Floskeln und Wiederholungen gut versteckt, aber wenn man denn eine gefunden hat, dann ist das wie ein Wiederentdecken eines alten Bekannten, denn auch wenn man die Bibelstelle noch nie gelesen hat, ist es, als sei die ganze Kultur, in der wir leben, doch darauf aufgebaut. Und so hatte ich zwar vom Propheten Elijah, der im Buch der Könige beschrieben wird, noch nie etwas gehört, aber als ich jetzt seine Geschichte las, wurde mir klar, was es war, was ich noch nie gehört hatte. Und dann nimmt man sich vor, doch endlich einmal die ganze Bibel zu lesen, aber die Bibel ist ein unglaublich dickes Buch, mit unglaublich dünnen Seiten, die sehr eng bedruckt sind, und ich war nie über das Lesen einzelner Bücher aus ihr herausgekommen. Ich erinnere noch, das ich als Jugendlicher, in einem Anfall spätkindlicher Frömmigkeit, tatsächlich angefangen hatte die Bibel von vorne nach hinten zu lesen, aber dann steht da das zweite bis vierte Buch Moses gleich am Anfang, Seiten über Seiten von Gesetzesvorschriften, deren Sinn schlicht nicht zu erfassen ist. Trotzdem hatte ich mich da durchgekämpft, aber als ich endlich bei Moses angelangt war und der Geschichte von seinem Auszug aus Ägypten, hatte ich so die Schnauze voll, das ich sie wieder beiseite legte und zehn Jahre nicht mehr anfasste.

Immerhin verbindet das Lesen in der Bibel sich für mich immer noch mit der Vorstellung, nicht nur zu lesen, sondern gleichzeitig auch etwas sinnvolles zu tun. Während Lesen im Allgemeinen, insofern es der Unterhaltung dient, dem Müßiggang zuzuordnen ist, ist das Lesen in der Bibel, auch wenn es der Unterhaltung dient, immer noch eine Art von Studium und also nicht müßig.

 

Die Geschichte des Propheten Elijah geht ungefähr so: In Israel war ein schlechter König am Werk, der andere Götter anbetete als den Herrn, der in dieser Phase der Bibel als Lokalgott auftritt, der nach seinem Gutdünken den Israelis Siege in den unvermeidlichen Kämpfen geben oder verweigern kann. Offenbar hat er eine mächtige Waffe zur Verfügung, mit der er Armeen vernichten kann. Aber für Elijah hat er auch andere Tricks auf Lager. Elijah sagt nun eine Hungersnot voraus, die daraufhin eintritt - ob die Hungersnot nur deshalb eintritt, weil Elijah sie vorausgesagt hatte, bleibt offen. Elijah flieht in einen Sumpf in der Wüste, wo er vom Brackwasser trinkt und von einem Raben gefüttert wird, der ihm Brot bringt, Und so vergeht ein Jahr oder zwei oder drei, dann macht sich Elijah wieder auf den Weg, und trifft eine verzweifelte Witwe an, die er um Brot bittet, sie aber sagt, sie habe nur noch eine Handvoll mehl und einen Löffel Öl, und nachdem sie die nverarbeitet habe, können sie mit ihrem Sohn nur noch auf den Tod warten. Da versprach ihr Elijah, daß die Handvoll Mehl und der Löffel Öl nie ausgehen werden, und so lebten die drei von diesem letzten Rest das nächste Jahr und auch das folgende, während die Hungersnot das Land immer noch im Griff hatte. Einmal wurde der Junge schwer krank, und starb sogar, und die Witwe machte Elijah und seinem Gott Vorwürfe, daß er sie vor dem Hunger gerettet habe, nur um sie mit der Krankheit

zu verderben. Aber Elijah legte sich über den Jungen, Stirn an Stirn, Auge an Auge, hand an Hand und Fuß an Fuß und betete dreimal zu Gott darum, daß die Seele des Jungen wieder in seinem Körper wohnen möge, und so geschah es. Schließlich ging Elijah zu König Ahab und forderte die Priester des Gottes Baal zu einem Wettbewerb heraus, wer ohne Feuer seinen Opferstock zum brennen bringen würde, und siehe da, der Lord tat das Wunder, und Elijah erschlug die Baalspriester, 450 an der Zahl. Ahabs Frau, die Königin Isabel, war wütend und wollte das Elijah das Schicksal ihrer Priester teilt, und so floh er wieder in die Wüste. Die Geschichte endet, nach einigen weiteren Wendungen, damit, das Elijah mit seinem Schüler Elisha über den Jordan geht, indem er mit seinem Stock das Wasser teilt und drüben wird er von Engeln mit einem goldenen Karren in den Himmel abgeholt. Elisha aber hatte darum gebeten, daß ihm der Geist Elijahs zuteil werden möge, und so folgte er ihm als Prophet nach, und auch er konnte mit Elijahs Stock den Jordan teilen, um in sein Land zurückzukehren.

 

Die Beschäftigung mit der Bibel hat mir den Abend gerettet, aber nicht den nächsten Tag. Ich wachte alleine auf in meinem Haus und wusste, daß ich den ganzen Tag alleine bleiben würde. Das war nicht mehr so wie früher, wenn man mal alleine blieb und das als eine erholsame Pause von der üblichen Regsamkeit genießen konnte. Ich zwang mich zu meinen Übungen, setzte mich hin und zählte meine Atemzüge zwanzig Minuten lang, dann riss ich mein QiGong ab, aber schon den kleinen Morgendlauf verschob ich auf unbestimmte Zeit nach hinten, stattdessen saß ich am Küchentisch vor einer Tasse Kaffee und daddelte am Handy umher, ja, ich sank sogar so weit, daß ich die aktuellen Nachrichten durchguckte, das neueste Kapitel der offiziellen Panikverbreiter und die tröstlichen Häppchen aus der Prominentenparade, schließlich die Sportergebnisse des Wochenendes. Ich hatte mir das schon einmal erfolgreich abtrainiert gehabt. Politik ist, von welcher Seite man auch guckt, immer das Geschäft der Menschen, die nach Macht streben, und nach Macht strebt man nur, um eine innere Leere zu füllen. Das alles ist das Geschäft des Satans, und man sollte sich nicht mehr damit befassen als unbedingt notwendig. Soweit die Theorie. In der Praxis lass ich mich leicht einfangen von der Dynamik der aktuellsten Kriegsdrohungen und Kontrollverschärfungen, und dann spüre ich in mir diesen negativen Drang, Schlimmes zu hören, um dem Untergang, der sich ja schon seit Jahrzehnten anbahnt, endlich ins Werk setzen zu sehen, um Recht zu behalten mit meiner unbarmherzigen Kritik, die ich am pauschal „System“ genannten Wesen, dem Leviathan, übe. Ungeachtet der Tatsache, daß ich mir keineswegs einbilden kann, einem Untergang halbwegs unbeschadet oder überhaupt zu entkommen. Ich ernähre mich wie alle anderen aus dem Supermarkt - der eigene Garten dient weniger der Selbstversorgung, als der Rekreation, und seine Früchte sind ein leckeres Schmackerl, aber keine vollwertige Ernährung, ich kann mich auch nicht erfolgreich selbst verteidigen, und meine Selbsthilfefähigkeiten in handwerklicher Hinsicht sind erschreckend simpel. Ich bin angewiesen auf die Gesellschaft und ihr Untergang wäre auch meiner. Punkt. Da gibt es nichts drumherum zu reden. Vielleicht sollte ich, gemäß der Grundvoraussetzung des demokratischen Gedankens, das die Bürger mündig wären, mich in einer Partei für das gesamtgesellschaftliche Wohl engagieren. Wenn jeder das täte, könnten die Parteien nicht so leicht von Interessenverbänden für ihre Zwecke eingespannt werden und vielleicht würde die Demokratie ja so funktionieren. Aber die Auswahl ist ernüchternd: Unsympathische Rechte auf der einen Seite, rechthaberische Linke auf der Andere, und dazwischen sektiererische Kleinstparteien. Genug davon, nicht mehr, kein Wort! Ich will meine Schwingung erhöhen, nicht mit den Rechthabereien kleingeistiger Menschen mitstreiten.

 

Ich lief lange. Der großen Runde fügte ich noch einen Stichweg hinzu. Mein Kopf wurde frei und ich begann wieder, klar zu denken. Ich war in einer schlechten Situation. Soviel war klar. Ich war nicht nur auf einmal alleine, ja, geradezu einsam, dazu fehlten mir auch die finanziellen Mittel, um meinen Lebensstil aufrechtzuerhalten. Ich mußte mir einen Plan machen, und begriff, das mein künftiges Leben durchaus lebbar war, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ich mußte mir wieder selbst genügen, eine Idee, die ich früher schonmal verfolgt hatte, ohne sie wirklich ausfüllen zu können. Als ich jung gewesen war, hatte ich mich immer an die Anderen rangehangen, und wenn der Abend lang wurde, bin ich immer noch mal los, in irgendeine Kneipe oder Club, und habe zuviel getrunken und Geld ausgegeben, das mir am nächsten Tag fehlte, und ich war mir nie selbst genug. Nur einmal, kurz, da dachte ich schon, jetzt hätte ich endlich mein Leben gefunden, und da begegnete mir dann Bea, und wir bekamen Kinder und heirateten und zogen auf dieses Dorf und verbrachten die letzten fast zwei Jahrzehnte damit, das unruhige Leben einer Familie zu führen, gehetzt von der Schule und den finanziellen Bedürfnissen, die eine junge Familie so hat. Und wir hatten uns um das Geld gekümmert; Bea, deren Ehrgeiz immer größer als meiner war, mehr als ich, aber da ich dann die nötige Zeit hatte, die verschiedenen Fahrdienste für die Kinder zu erledigen, war sie es auch zufrieden. Aber das war jetzt alles gewesen. Als ich lief, legte sich meine Angst davor. Das Leben würde weitergehen, und wenn nicht so, dann anders.

Zufrieden und ausgepowert kam ich wieder nach Hause und legte mich zur Belohnung in die Wanne. Nachher würde ich rechnen müssen, um zu wissen, wie meine finanzielle Situation tatsächlich war.

 

Zunächst die unvermeidlichen Abgaben, also die sogenannten „Kopfsteuern“. Allen voran ist das die Krankenversicherung, dann Grundsteuern, Müllgebühren (die man auch nicht einsparen kann, indem man müllfrei lebt, also auch eine Kopfsteuer), die Propagandagebühr fürs Fernsehen, die Wartungskosten für Kläranlage und Gastank. Dann die Versicherungen, das Auto würde ich kündigen, aber die Grundstückseigentümerhaftpflichtversicherung, ebenso wie die Gebäudeversicherung und die Haftpflichtversicherung konnte ich mir einstweilen nicht als überflüssig denken. Dann die Verbrauchskosten für Strom, Wasser und Gas. Strom und Gas würde ich nun sehr sparen können, aber erstmal hatte ich die Abschläge, die eine ganze Familie braucht, weiterzuzahlen, ebenso wie die Steuervorauszahlungen. Ich könnte auf eine Rückerstattung im Lauf des nächsten Jahres hoffen. Schließlich die Beiträge für Telefon, Internet und Sportverein.

Ich hatte diese Zahlen nicht zum ersten Mal zusammengerechnet, trotzdem war ich wieder einmal erschreckt, wieviel Geld ich auszugeben hatte, bevor ich überhaupt anfangen durfte, zu leben.

Aber all diese Zahlen sagten nichts aus, solange ich nicht wußte, wie viel Geld mir zur Verfügung stand, und das war am schlimmsten Fall erstmal gar nichts, weil eine fristlose Kündigung zu einer Sperrfrist bei dem Bezug von Arbeitslosengeld führt. Ich musste also die folgenden drei Monate von Rücklagen überstehen, die ich nicht hatte. Ich packte meine Sachen zusammen, die ich am morgigen Montag für die Ämter brauchen würde, und am Abend las ich noch ein wenig in der Bibel. Dabei ging mir durch den Kopf, wie verrückt ich das früher gefunden hätte, in der Bibel zu lesen, um abends auszuspannen.

 

Aber es kam dann noch schlimmer. Das Auto hatte einen Motorschaden, der es praktisch wertlos machte. Die Werkstatt ließ sich darauf ein, den Wagen für mich auszuschlachten und zu verschrotten, aber ich sah kein Geld dafür. Das wollte die Versicherung aber von mir haben, weil ich offenbar mehr gefahren war, als in dem Vertrag vereinbart, so daß ich eine Nachzahlung zu leisten hatte. Arbeitslosengeld gab es keines, und das Sozialamt verwies darauf, daß ich ein Haus besäße und außerdem mit einer begüterten Frau zusammenlebte, denn umgemeldet hatte sich Bea noch nicht und außerdem waren wir verheiratet.

Wenn auch nicht mehr lange. Geschäftig wie sie war, hatte sie einen Anwalt bestellt, um eine Scheidung zu erreichen; ich fand das voreilig, denn ich war immer der Meinung, das ein Par auch eine Phase des Abstandes und der Untreue überwinden würde können, und ich fand es ungehörig, die Scheidung einzureichen, bevor man nicht wenigstens eine gewisse Zeit tatsächlich getrennt gelebt hatte und wußte, daß sich daran auch nichts ändern würde. Deswegen war ich ein wenig renitent in meiner Beantwortungsmoral ihrer Schreiben, woraufhin sie erwähnte, daß ich für Markus auch Unterhalt zu zahlen hätte, und mit Vollstreckungsbefehlen drohte, obwohl sie genau wußte, wie es um meine finanzielle Situation gestellt war.

Ich lebte diesen Herbst praktisch ohne Geld. Ich aß abwechselnd Kartoffeln mit Zwiebeln und Quark, Spaghetti mit Tomatensoße, oder Haferbrei mit Milch. Ich tat im Garten, was im Garten zu tun war, und erledigte die Aufgaben für das Arbeitsamt, soweit ich das virtuell konnte, denn Papier und Tinte konnte ich mangels Geld nicht verwenden. Den Bus in die 25 km entfernte Stadt hatte ich dabei nur einmal genommen, denn das war viel zu teuer. Stattdessen fuhr ich mit meinem Fahrrad, aber was im September und Oktober noch angenehm war, wurde im November zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit. Autofahrer, die im Halbdunkeln nicht einsehen, daß auch Fahrradfahrer ihren Platz auf der Straße brauchen und bei Gegenverkehr überholen, ohne abzubremsen, ohne Rücksichtnahme, so daß ich dann dazu überging, meinen wöchentlichen Einkauf zu Fuß zu erledigen, drei Stunden hin, drei Stunden zurück, einen ganzen Tag. Zwei Liter Milch, zwei Packungen Haferflocken, 2 Packungen Spaghetti und eine Packung Reis, dazu zwei Beutel Reibekäse und eine Flasche Chinesenketchup. Obst gab es ja einstweilen noch an Bäumen am Weg, und die Marmelade aus den Johannisbeeren vom Sommer war auch noch nicht aufgebraucht.

Ross sah ich in der Zeit kaum, wir grüßten uns wie Nachbarn, aber die vorschnelle Nähe unserer ersten Begegnung machte es jetzt fast unmöglich, unbefangen ein, zwei Sätze zu plaudern, also redeten wir gar nicht, sondern nickten uns nur kurz zu. Unter der Woche war er auch oft nicht da, anscheinend ging er irgendeiner Arbeit nach, während ich damit anfing, meinen Garten von einer Familiennachmittagsoase zu einem Wirtschaftsgarten umzugestalten. Die Blumenbeete verwilderten langsam, aber die Beeren und Obstbäume waren jetzt akkurat zurückgeschnitten, aus Rasenflächen wurde Ackerland, und es war ganz erstaunlich, wieviel man doch schaffen konnte, wenn man sich weder um Arbeit noch um Familie zu kümmern hatte und kein Geld, um sich mit irgendwelchen Aktivitäten abzulenken. Und an den guten Tagen war ich erstaunlich zufrieden mit meinem Leben, daß einen ganz neuen Sinn zu bekommen schien, aber abends litt ich unter meiner Einsamkeit. Oft saß ich am Computer und belas mich im Internet über irgendetwas, aber ich merkte, daß ich kein echtes Interesse hatte. Dann trat ich auf Facebook Gruppen bei, um dort zu diskutieren, aber all das machte mich nur unglücklich. Es war eine Ablenkung, aber kein Kontakt, und im Effekt saß ich immer noch alleine zu Hause herum und sehnte mich danach, mit irgendjemanden wieder einmal ausführlich zu reden. Ich dachte an meine Freunde von früher, bevor es die Familie gab, aber ich hatte die Kontakte letztlich nicht ohne Grund abgebrochen. Die meisten meiner sogenannten Freunde waren ja bloße Kumpel gewesen, mit denen man sich die Abende schön gesoffen hatte, und wenn ich seither mal jemanden in der Stadt traf, dann fühlte ich mich auch nicht wohl in ihrer Gegenwart. Ich fürchtete, wenn ich wieder anfing zu trinken, würde ich in eine Abwärtsspirale geraten, aus der es kein Entkommen mehr geben würde. Also blieb ich nüchtern, und versuchte darauf zu warten, daß auch wieder bessere Zeiten kommen würden. Natürlich, das leben ist ein Auf und Ab, und so wenig wie das Glück von Dauer ist, ist es auch das Unglück.

Aber auch das Unglück muss durchschritten werden, um hinten wieder heraus zu kommen, und Mitte November begann ich mich unwohl zu fühlen. Erst wurde ich hungrig, und wusste nicht, was mir fehlt, dann fing ich an zu frieren und floh vor der Arbeit nach drinnen, und dann kam die Grippe, und ich lag den ganzen Tag auf dem Sofa im Wohnzimmer, und schaffte es gerade, mir ab und zu Tee zu kochen.

Mit dem Fieber kamen dann die merkwürdigen Träume, in denen Bea, Markus und Juliane mir Vorhaltungen machten, warum ich hier auf dem Dorf versauern würde, und ich versuchte zu erklären, daß ich ja momentan gar keine andere Chance hätte, aber sie lachten mich stets aus. Und in anderen Träumen machten mir meine Eltern Vorhaltungen, daß ich versäumt hätte, was ordentliches aus mir zu machen, und ich verstand immer nicht, warum sie alle nicht mich einfach mal in den Arm nehmen konnten und sagen, es wird schon wieder, stattdessen wussten sie alle es besser und ich blieb hier liegen, alleine und unversorgt.

Ich hatte keinen Honig mehr, und das war schlimm, weil ich nichts essen konnte, und ohne Honig gab der Tee keine Kraft, und ich würde immer schwächer werden und schließlich sterben, diese Vision lag nun ganz klar vor meinen Augen, also zog ich mich an, und ging bei Wind und Wetter rüber zu Ross.

Er machte die Tür auf und justierte mich mit seinen Augen. „Du bist krank“ sagte er. „Brauchst du Hilfe?“ Er bat mich nicht herein, sondern stand in der Tür und wartete auf meine Antwort.

„Ich brauche Honig!“ sagte ich. Kannst Du mir welchen geben?“

Er brummte etwas, ging in seine Küche und kam mit einem Glas mit einem Rest Honig wieder. „Den kann ich dir geben.“ Morgen gehe ich einkaufen und bringe Dir was mit, Okay?“

„Vielen Dank“ sagte ich nur, nahm den Honig und kehrte zurück in meine Höhle. Der Ausflug war anstrengend gewesen und Zuhause schlief ich vor Erschöpfung gleich ein.

In der Nacht wachte ich auf und zitterte am ganzen Körper. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine waren zu schwach und brachen unter mir weg. Ich gab es auf und schlief wieder ein.

 

Am nächsten Tag dachte ich, ich sterbe. Das Einzige, was mich davon abhielt, war der besuch von Ross, der gegen Mittag kam und mir ein neues Glas Honig brachte, mir auch einen Tee kochte und etwas aufräumte. Es dauerte noch fast zwei Wochen, ehe ich wieder auf die Beine kam, und Ross kam täglich vorbei, kochte mir Tee und dann auch Brühe und schließlich Hühnersuppe, und ich erholte mich langsam. Von meinen Fieberträumen brauche ich nicht viel zu erzählen, sie waren wirr und ich verstand nie, was sie mir sagen wollten. Immerhin war mir klar, daß ich an einem entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben angekommen war, und dringend eine Richtung brauchte, in die ich mich nun wenden sollte. Nur konnte ich mich nicht genug konzentrieren, um mir überhaupt die verfügbaren Alternativen aufzuzeigen, und fiel bald wieder in die Dämmerung der fiebrigen Träume zurück.

Als ich dann, es war schon Anfang Dezember, langsam wieder zu mir kam, bat ich Ross einmal beiläufig, ob er nicht etwas zu lesen für mich hätte, ich wüsste nicht, wofür ich mich gerade interessieren sollte. „Mit Büchern sieht es schlecht aus“ antwortete er. „Ich habe nur Fachliteratur, würdest du kaum verstehen können.“ „Das ist egal“, gab ich zurück, „ich brauch es nicht zum Verstehen, ich brauche es nur zum Lesen.“ „Na wenns so ist, werde ich wohl was haben.“

Am nächsten Tag brachte er mir einen Band mit über die Evolution der Füße. „Das ist das einfachste, was ich gefunden habe“ erklärte er. „Glaub mir, die Analyse von dna Frequenzen willst du nicht lesen, das ist schlimmer als die Bibel. Übrigens, kein Wunder, das du krank wirst, wenn du so etwas freiwillig liest!“ Er deutete dabei auf die Bibel, die seit mittlerweile zwei Monaten neben der Leselampe lag. „Oder bist du ein Levit und musst das lesen?“

„Nein, in der Bibel zu lesen soll sehr heilsam sein“ sagte ich. „Jeden Tag in der Bibel lesen ist die beste Prävention gegen jede krankheit, das sagte meine Oma jedenfalls immer.“ - „Sehr wirkungsvoll, wie ich sehe“ - Ich habe ja nicht jeden Tag gelesen!“ - „Und du meinst, das hätte geholfen?“ - „Nein. Aber immerhin sind es sehr alte Geschichten, und die erzählen uns doch einiges darüber, wie unsere Kultur entstanden ist, in der wir heute leben.“ „Es gibt durchaus auch ältere Schriften. Aus Ägypten vor allem, aber auch aus Sumer.“ Aber das Gespräch wuchs mir schon über den Kopf. Ich konnte mich nicht konzentrieren, und Sumer, Ägypten und Israel verwuchsen zu einem einzigen Bild einer gelben Wüste mit ominösen Städten. Das hinderte Ross derweil nicht daran, etwas zu dozieren, über die offensichtlich falschen oder falsch verstandenen Mengenangaben von Soldaten und Opfertieren. „Kannst Du Dir das vorstellen, ein Opferfest, bei dem Hunderttausende Rinder an einem Tag geschlachtet werden? Eine Stadt von der Größe, die ein solches Fest ausrichten könnte, gibt es bis heute nicht - obwohl, vielleicht mittlereweile, in China, wer weiß. Na, wie dem auch sei, langsam geht es dir ja besser. Ich werde trotzdem morgen nochmal vorbeikommen und nachfragen, ob du etwas verstanden hast.“ Dabei deutete er auf das Buch. „Würd mich ja wundern ...“

Und damit verschwand er wieder. Seine letzte Bemerkung war, soviel weiß ich jetzt, weder abschätzig noch abwertend gemeint, er hatte einfach nur ausgesprochen, was er dachte, und da war es wahrscheinlicher, daß ich das Fachbuch zur Seite legen würde, als mich mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht, wenn er tatsächlich die Bibel gelesen hätte, würde er wissen, daß jemand, der die Bibel liest, auch andere Texte lesen kann, die nicht zu verstehen sind, und gleichwohl einen Sinn da heraus zu ziehen. So funktioniert einfach der menschliche Geist. Man sucht auch da einen Sinn, wo es keinen gibt. Man sieht Gesichter in den Bäumen, man stellt überall Zusammenhänge her, nicht, weil es diese Zusammenhänge gibt oder nicht gibt, sondern, weil das Gehirn diese Zusammenhänge herstellen will, das ist das, was das Gehirn den ganzen Tag tut, es stellt Zusammenhänge her.

 

Und so fing ich denn an zu lesen, in einem Buch voller Rechtschreib- und Grammatikfehler. Wahrscheinlich hat der Übersetzer einfach nur die Googlemaschine bemüht und dann einmal flüchtig drübergelesen. Unglaublich, wie schlecht redigierte Sachen heutzutage in den Druck gehen können. Aber zu verstehen war es dann letztendlich und ansatzweise doch. In dem Buch ging es ausschließlich um Füße. Die Autorin untersuchte einige Fossilien und fossilierte Abdrücke von Füßen und erklärte anhand dieser Fußformen, welche von Vorfahren des Menschen stammen können, und welche nicht. Ihr Grundargument war dabei sehr einfach. Sie wiederholte es dauernd: In der Evolution gibt es keine Rückwärtsentwicklung. Das heißt, eine einmal vorgenommene Spezialisierung kann wohl weiterentwickelt, schließlich auch überformt und unkenntlich gemacht werden, aber sie kann nicht rückgängig gemacht werden. Und der menschliche Fuß, so erklärte sie, habe eine sehr ursprüngliche Form, die im Lauf der Evolution keine Anpassungen, insbesondere an ein Leben in den Bäumen, vorgenommen habe. Das heißt, das Nichtvorhandensein eines Greifzehs beim Menschen beweise, daß die Vorfahren der Menschen nicht auf Bäumen gelebt haben können.

Das wiederum stand so in dem Buch nicht drin. Es stand drin, aber derart verklausuliert in Relativierungen, Fachvokabular und Querverweisen, daß ich diese Essenz erst begriff, als ich nach dem dritten kursorischem Lesen einmal versuchte, im Geiste nachzuvollziehen, was denn gemeint sein könnte. Und selbst dann begriff ich es noch nicht: Was für eine Rolle spielt es schon, welche Fußform unsere Vorfahren hatten? Ich nahm dann meinen Fuß in die Hand und massierte ihn langsam und gründlich, die fünf Zehenstränge vom Ansatz im Knöchel herunter bis in die Zehenspitzen. Mein Fußgewölbe war weicher geworden, ein Ergebnis der stetigen QiGongübung der letzten Jahre, aber ich kannte auch noch die Stellen, die früher schmerzten, und zog die Knochenstränge auseinander, um für weitere Entspannung zu sorgen. Am Ballen des großen Zehs verweilte ich. Dieser ballen, so zeigten es die Fotos in dem Buch, war bei den Affen nach außen gestellt, damit der abgespreizte große Zeh greifen konnte. Mein Zeh hingegen war nach vorne ausgerichtet, um beim Gehen oder Laufen Kraft in den Boden übertragen zu können, um geschwindigkeit zu entwickeln. Aber hat dieser Ballen nicht vielleicht doch ansatzweise die Idee in sich, etwas greifen zu können. Mit welcher Technik greifen handlose Menschen, die sich mit den Füßen behelfen? Ich sah im Netz mir einige Bilder an, aber tatsächlich wurde die zum Greifen notwendige Opposition nicht zwischen Daumenzeh und den anderen zehen hergestellt, sondern zwischen der Zehenfront und der Fußsohle. Und auch beim Massieren fand ich nicht ein Gefühl, daß irgendeine Abspreizung des großen Zehs herstellen würde. Aber natürlich ist das keine Wissenschaft, ich kann nur feststellen, was mir plausibel erscheint, und nun saß ich auf meinem Sofa - kräftig genug inzwischen wieder, um mir meinen Tee zu machen und ein bißchen etwas zu essen, aber noch lange nicht bereit, meine täglichen Aufgaben wieder zu übernehmen und etwas in Haus oder Garten zu tun - und überlegte, wie sich die Vorfahren der Menschen vor 3 oder zehn Millionen Jahren fortbewegt hatten. Und langsam dämmerte mir, daß diese kleine Information über die Funktionsweise des Fußes geeignet war, mein für selbstverständlich gehaltene Bild des Evolutionsablaufs insgesamt in Frage zu stellen. Wenn der menschliche Fuß nicht von auf Bäumen lebenden Vorfahren abstammt, dann stimmt ja die gesamte Theorie nicht, daß wir von baumbewohnenden Affen abstammen. Aber von wem denn dann?

Und wieder fand ich mich im Netz, googelnd über australopithecen, über den sogenannten homo habilis und den aufrechten Gang, derr - das war meinem Laienverstand komplett entgangen, nicht mit dem Menschen vor zwei oder drei Millionen Jahren entstand, sondern bereits vor zehn Millionen Jahren am Mittelmeer, oder genaugenommen noch viel früher, denn Vögel gehen ja auch schon, so daß ein gewitzter Grieche das Bonmot entwickelt hat, der Mensch sei ein Zweifüßer ohne Federn. Also mehr eine Art Vogel als eine Art Affe.

Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Auch wenn der letzte Gedanke natürlich Unsinn war - wenn man einmal die als Fakt aufgefasste Behauptung, der Mensch stamme vom Affen ab, in Frage stellte, dann konnte ja alles mögliche stimmen. Aber was? Es war erschreckend, welche Bandbreite an Möglichkeiten auf einmal offen lag. Aber durch flüchtiges Googeln konnte ich nicht hoffen, inhaltliche Antworten zu bekommen, alles, wozu Google taugt, ist, einen Überblick zu bekommen über die allgemein anerkannten Thesen. Fakten, die in ein bestehendes gedankengebäude integriert sind. Nur mit viel Zeit und Glück schafft man es auf die Seiten der dissendierenden Eigendenker mit abweichenden Theorien, deren Anschlußlosigkeit im Grunde für ihre Irrelevanz steht.

 

Am Abend schlief ich dann früh ein. Meine Gesundung schritt jetzt mit Macht vorwärts, und als ich am nächsten Tag aufwachte, hatte ich einen anderen Tatendrang in mir, und langsam und vorsichtig begann ich, das Laub vom Grundstück zu fegen. Schritt für Schritt, und streng darauf achtend, nicht ins Schwitzen zu kommen, denn das würde zu einem Rückfall führen. Aber nach knapp anderthalb Stunden hatte ich schon genug (ich hatte gerade mal vor dem Haus ein kleines Stückchen geschafft). Und als ich dann in den Briefkasten sah, fing das nächste Kapitel an. Die erste Mahnung war eingetroffen, weil mein Konto keine Deckung mehr besaß, also würden auch die nächsten nicht lange auf sich warten lassen. Strom, Wasser, Müll, Telefon, Internet, Krankenversicherung, Haftpflichtversicherung, Gebäudeversicherung, Steuern. Ich sprang über meinen Schatten, rief Bea an und berichtete ihr von meinem Dilemma. „Warum hast du denn keinen Job?“ fragte sie voll Unverständnis. „Ich habe kein Auto“ antwortete ich wahrheitsgemäß, „und kann deshalb sowieso keinen Job erreichen!“ „Man, da hättest du dich ja auch mal drum kümmern können. Und was willst du jetzt von mir?“ „Ich dachte, du könntest wenigstens die Gebäudeversicherung übernehmen, und die Grundstückssteuern, ist ja dein Haus. ich weiß auch nicht. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll!“ - „Tja, Vincent, da kann ich dir auch nicht helfen. Du musst selber sehen, wie Du mit Deinem Leben klarkommst. Übrigens wäre es auch dran, daß Du Deinen Unterhalt für Jakob beginnst zu zahlen. Der wohnt ja jetzt bei mir, wie Dir bekannt sein dürfte. Und das Haus, da habe ich schon länger drüber nachgedacht, ich denke, ich werde es verkaufen. Die Kinder sind ja daran nicht interessiert, und so wie es klingt, ist es auch Dir eher ein Klotz am Bein.“ „Neinnein,“ beeilte ich mich zu versichern, „ich lebe wirklich gerne darin. Ist ein wenig einsam jetzt, aber das wird schon wieder!“ „Du kannst nicht auf Dauer in meinem Haus leben bleiben. Willst Du es mir abkaufen?“

 - „Womit denn?“ - „Das hättest Du Dir wirklich auch mal früher überlegen können. 20 Jahre hast Du gearbeitet, und jetzt bist Du nach zwei Monaten pleite? Hast du denn gar nichts für Dich zurückbehalten?“ - „Ey, wir hatten Kinder, das Leben war teuer, ich war froh über jeden Euro!“ - „Und deshalb kann man nicht vorsorgen? Also wirklich, Vincent, deine lusche Lebenseinstellung fällt Dir nun auf die Füße. Aber das ist nicht mein Problem. Geh zum Anwalt, geh zum Amt, kümmer dich drum. Mir brauchst du jedenfalls nichts vorheulen.“

Also ging ich am nächsten Tag zum Amt, und schilderte meine desolate Situation aufs neue. „Sie wohnen also in einem haus, das ihnen nicht gehört, und zahlen dafür keine Miete?“ fragte der bearbeiter nach. „Ja!“ Dann können wir ja davon ausgehen, daß das Verhältnis zwischen ihnen und ihrer Frau nicht so zerrüttet ist, wie sie behaupten, sonst würde sie das ja nicht dulden.“ „Wir leben in Scheidung!“ - „Das alleine bedeutet nicht viel, solange sie keinen entsprechenden Titel verfügt haben. Sonst kann ja jeder kommen und behaupten, wir leben in Scheidung, nur um das Geld vom Staat einzustreichen! Besorgen sie sich einen Titel von ihrem Anwalt, und kommen dann wieder!“

Aber wie sich herausstellte, hatte auch meine Rechtsschutzversicherung schon eine Zahlung nicht abbuchen können, und weigerte sich daraufhin, mir weiteren Rechtsbeistand zu geben. Also ging ich Ende der Woche abermals zum Amt - übrigens wörtlich, für den Bus fehlte mir das Geld, für das Fahrrad die Kraft, also ging ich die 15km zu Fuß. Vier Stunden hin, zwei Stunden warten, dann eine halbe Stunde Gespräch, den halben Rückweg dann schon im Dunkeln zurück. Und gebracht hatte es wieder nichts. Meine Frau sei einstweilen noch verpflichtet, mir einen Unterhalt zu garantieren, da wir ja rechtlich noch als Mann und Frau lebten. Ich rief also Bea nochmal an und schilderte ihr die Situation, aber sie lachte mich geradewegs aus. „Du willst von mir Unterhalt? Hast Du denn gar keine Ehre? Geh los und kümmere Dich um Dein Leben. Und ruf nicht nochmal an, bevor ich noch den Respekt vor Dir verliere!“

Sie hatte recht, ich musste etwas tun, nur hatte ich überhaupt keine Ahnung, was. Es wäre schon möglich gewesen, auch kurzfristig einen Job zu finden, wenn ich denn wenigstens mobil gewesen wäre. Immerhin kam mein alter Freund Uwe vorbei, brachte fette Einkaufstüten mit Vorräten mit und legte mir noch 200 € auf den Tisch. Davon würde ich keine Rechnungen bezahlen können, aber ich konnte eine Zeitlang leben. Zunächst dachte ich, ich könnte es mir so einteilen, daß das bis Ende Januaer reicht, aber dann merkte ich, daß das nicht stimmte. Ich war nicht zuletzt krank geworden, weil es mir an gutem Essen gefehlt hatte, und um wieder auf die Beine zu kommen, musste ich mir etwas gönnen. Hühnerfleisch und frisches Gemüse, Eier, Käse und Obst, darauf konnte ich nun nicht mehr verzichten. Dennoch ging ich nun tagsüber in den Wald, und las die Bucheckern auf. Das machte nicht satt, aber die Mineralien gaben ein Gefühl von Stärke zurück, und nachdem ich auch meine Übungen wieder aufnahm, fühlte ich mich Mitte Dezember fast wieder wie ein Mensch. Meine Probleme waren dabei ungelöst, aus den Mahnungen wurden Abmahnungen und Vollstreckungsbescheide, die Spende von Uwe neigte sich, und es drohte ein trostloses Weihnachten.

 

Eines Tages ging ich zu Ross rüber, ich wollte ihm sein Buch wiedergeben, und vielleicht hatte er ja auch noch ein neues zum Lesen. Er aber war leutselig, bat mich herein, und bald quatschten wir wieder über dies und das. Genaugenommen war es ein wenig anders: Wir hätten über dies und das gequatsch, wenn Ross ein normaler Mensch wäre, mit dem man erstmal ein wenig plaudert, bevor man zum Punkt kommt. So lief das Gespräch so ab:

Ich (klingele an der Tür). Er macht auf): „Ah, du bist es! Komm herein!“ Wir gehen beide herein. Ich muss so etwas wie „Guten Morgen“ oder „Hallo“ gesagt haben, dann saß ich auf dem Küchenstuhl, und er fragt mich: „Und hast du das Buch verstanden?“

Ich: „Na, sicherlich nicht alles, einiges war auch gar nicht zu verstehen, weil die Sätze grammatikalisch nicht zu dekonstruieren waren, sie waren schlicht falsch, aber im Großen und ganzen denke ich doch, ich habe die Aussage mitgenommen.“

Er: „Die Aussage? Welche Aussage ist denn da drin?“

Ich: „Na, das die Vorfahren der Menschen nicht auf Bäumen gelebt haben können, weil unsere Fußform dann eine andere wäre.“

Er: „Ach so, ja, so kann man das auch sehen.“

„Ich: „Wieso, wie siehst du das denn?“

Mittlerweile hatte er den Wasserkocher angestellt und zwei Tassen herausgeholt. „Ich habe Schwarztee und Kräuter, was willst du?“

Ich: „Kräuter immer noch. Ich bin immer noch schwach.“

Er: „Na klar. Also, die Behauptung, das Menschen nicht auf Bäumen gelebt haben, ist ja bloß die Widerlegung einer ohnehin unsinnigen Theorie.“ Ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte, zu viele Implikationen waren mit der Aussage verbunden. Aber ich brauchte auch gar nichts antworten, er begann, einen seiner Vorträge zu halten:

„Das der Fuß nicht von in Bäumen lebenden Primaten abstammen kann, ist ja ganz offensichtlich. Spannend fand ich vielmehr, was sie zur Hand zu sagen hatte: Das die Hand nie eine Spezialisierung erfahren hatte, mit der sie zur Fortbewegung diente. Und das führt ja zu der Schlußfolgerung, daß der gemeinsame Vorfahre von Menschen und Primaten vor mindestens 90 Millionen Jahren gelebt hat. Das ist die interessante Aussage des Buches, das allerdings an diesem Punkt, wo es anfängt, interessant zu werden, auch schon aufhört.“

Es stimmt, ich hatte das auch gelesen, aber es war mir zu kompliziert, und auch zu unerhört gewesen, um es zu kapieren. „Ie stellt sich denn die Menschheitsgeschichte nach Deiner Ansicht dar?“

„Das willst du wissen?“

„Naja, immerhin gibst du mir dieses Buch, und nun werde nich doch wohl nachfragen dürfen.“

„Ah ja, sicher. Ich dachte eigentlich, du benutzt die Bilder als Zeichenvorlage. Kann ich ja nicht ahnen, daß Du das tatsächlich liest!

„Warum denn nicht?“

„Das Buch ist unlesbar. Auf Arbeit wollte es keiner haben, man hat es nur nicht weggeworfen, weil diese Widmung drin steht, und irgendwie wäre das resprektlos gewesen. Also habe ich es mitgenommen. Ich fand es dann doch ganz interessant. Nicht, daß da etwas drinstehen würde, was ich nicht auch so gewußt hätte, zumindest theoretisch, aber der Ansatz war dann doch ganz erhellend.“

„Und wie ist nun Deine Theorie?“

„Wir wissen nicht genug, um eine schlüssige Theorie aufzustellen. Das ist mal Fakt.“ Er schien nachzudenken, wie er es anfangen wollte, das gab mir die Gelegenheit, meine Laienkenntnis doch einmal anzubringen: „Man sagt, daß der letzte gemeinsame Vorfahre zwischen Schimpanse und Menschen vor 6 Millionen Jahren gelebt habe...“

Ross lachte. „Ja, aber das ist Unsinn. Erstens sind die Berechnungen falsch, und zweitens die Schlußfolgerungen. Richtig gerechnet, käme man auf einen gemeinsamen Vorfahren von vor 14 Millionen Jahren. Das wäre immerhin nicht ganz unsinnig, aber ich kann dir sagen, so einfach ist es nicht. Das sind Rechenoperationen, die bestimmte Ergebnisse bringen. Man nimmt die durchschnittliche Mutationsrate der Gene auf der einen Seite, und die Gesamtzahl der vorhandenen identischen und unterschiedlichen Gene auf der anderen Seite, und rechnet per Dreisatz zurück, wann es einen gemeinsamen Vorfahren gegeben haben sollte. Aber das ist kein Beweis, das ist nur ein Rechenergebnis. Es setzt eine gleichmäßige Mutationsrate der Gene voraus, aber ob die so existiert, kann man nicht wirklich nachweisen. Die Evolutionstheorie hat doch einige Schwächen, und es ist klar, daß wir bestimmte Dinge nicht wissen und nicht verstehen, und das macht die Sache kompliziert, weil wir es mit mehreren Unbekannten zu tun haben.

„Was für Unbekannten denn?“ fragte ich nach, froh, eine Frage zu haben, die mein beginnendes völliges Unverständnis noch kaschieren konnte.“

„Die erste Unbekannte ist die biologische Entwicklung selber: Die Mutationsrate erklärt uns die Entwicklung einer Art. Mit ihr können wir bestimmen, wie sich z.B. der Mensch in den letzten Anderthalb Millionen Jahren entwickelt hat. Er hat vor allem sein Sprachzentrum vergrößert, seine sozialen Kompetenzen und das abstrakte Denken. Und wir können jetzt zurückrechnen, wann sich bestimmte Populationen voneinander getrennt haben, welche Bevölkerungen sich wieder vermischten, etc etc. Aber das können wir berechnen, weil das alles Menschen sind. Wir können daraus nicht berechnen, wie Menschen entstanden sind, weil wir nicht wissen, wie der Übergang von einer Art zur anderen funktioniert.“

„Mit anderen Worten, nichts genaues weiß man nicht.“

„Naja, das stimmt auch nicht. Wir wissen sehr viel. Die Schwierigkeit ist nicht das Wissen, sondern die Herstellung des richtigen Zusammenhangs mit dem Wissen.“

Ich dachte einen Moment darüber nach, ob ich verstanden hatte, was er sagte, aber merkte, daß ich nicht mehr folgen konnte. Ich wußte nicht, was er mir erklären wollte, und das führte dazu, daß ich einen gewissen Unmut in mir aufsteigen spürte. „Was willst du mir denn jetzt erklären?“ fragte ich deshalb etwas barsch. „Du kommst von einer relativierung zur nächsten, aber was meinst du?“

„Was ich meine? Das willst du wissen?“

„Ja, warum denn nicht?“ Ich weiß sowieso nicht, wie die Geschichte gelaufen ist, ob wir uns vor 14 Millionen Jahren vom Schimpansen getrennt haben, oder vor 90 Millionen vom Primaten. Eigentlich gehe ich immer noch davon aus, daß, so wie es alle immer behaupten, wir von der einen oder anderen Art Affen abstammen. Wieso sollte ich das in Frage stellen? Gut, ich habe dieses Buch gelesen, und weiß nun, daß die Theorie mit von den Bäumen herunterkommen so nicht stimmt. Aber wie war es denn? Wenn du die eine Theorie ablehnst, musst du doch eine andere haben!“

„Ja, das stimmt. Ich würde allerdings nicht von einer Theorie, sondern von einer Arbeitshypothese sprechen, und genaugenommen gibt es davon zwei. Die konservative Hypothese - willst du das wirklich hören?“

„Klar! Ich bin neugierig!“

„Na gut: Also, die konservative Hypothese geht davon aus, daß sich die Menschen vor etwa 15 Millionen Jahren von den Affen getrennt haben. Damals gab es im Myozän eine längere Warmphase, die unter anderem dazu führte, daß weite Teile Europas überflutet wurden und eine Inselwelt entstand, mit vielen flachen Gewässern. Es war ein ganz neuer Lebensraum, der entstand. Subtropische und tropische Flachmeere, durchzogen von Mangroven. Die Trennung von Mensch und Affe begann dadurch, daß die Menschen mehr und mehr im Wasser lebten.“

„Im Wasser?“ warf ich ein.

„Ja klar im Wasser. Es ist ja ganz offensichtlich, daß der Mensch einige Millionen Jahre als Meeresbewohner verbracht haben muß.“

„Ach so?“

„Ist das nicht offensichtlich?“

„Ich weiß nicht! Für mich ist das eine ganz neue Idee. Der Mensch lebt doch an Land!

„Na, also dann nochmal ganz von vorne...“ Ross sah sich in seiner Küche um, vielleicht auf der Suche nach Inspiration, wie er mir stupendem Laien die Dinge nahebringen könnte. Aber er fand sie nicht. Er setzte an zu einem langen technischem Vortrag, dem ich dank seiner monoton nörgelnden Stimme nur sehr schwer folgen konnte, und ich driftete immer wieder ab, während seiner Ausführungen über die nackte Haut, den Tauchreflex, die tief liegende Nase, den Salzverbrauch, die Nägel, die Finger, die Daumen, die Haare, die Ohren, die Geburt. Alles waren schlagkräftige Beweise dafür, daß der Mensch, beziehungsweise sein Vorfahr, ein Meeresbewohner gewesen sein muß. Aber ich saß nur da mit offenem Mund, und Ross merkte selber, daß sein Vortrag mich überforderte, und auérdem, nachdem man eine gute Stunde des Nachmittags verquatscht hat, ist es auch Zeit, einen nachbarschaftlichen Besuch zu beenden, „lest not your neighbour hate you“, weil du ihm zu sehr auf der Türschwelle stehst.

 

An dem Nachmittag ging ich zum ersten Mal noch laufen. Es war schon fast dunkel, aber anstatt die Haustür zu nehmen, nahm ich meine Beine in die Hand und lief einfach ein wenig den Weg herunter. Ich kam bis zu der Hecke, die ein paar hundert Meter hinter dem Dorfausgang die Kurve des Feldwegs beschirmt, dann keuchte ich heftig, brach ab und ging wieder zurück. Aber am nächsten Tag lief ich schon zur Hecke und wieder zurück, und am darauffolgenden Tag noch halb den Weg bis zum Wald herunter, und so lief ich jeden Tag ein bisschen mehr, meine Schritte zählend, um eine Form zu haben, an der ich mich festhalten konnte. Zwei Schritte für das Einatmen, zwei Schritte für das Ausatmen, also vier Schritte auf einen Atemzug, vier mal vier Schritte als rhythmische Struktur, vier mal vier mal vier Schritte als Vollendung einer Einheit. 64 Schritte sind also eins. Und das zählte ich nun immer, davon 22 war zum Wald und zurück, und der Wald selber ließ sich auf verschiedenen Wegen durchmessen, zu 30, zu 50, später zu 80 und 110 Einheiten. Dann war aber der Wald, das Wäldchen, in alle Richtungen schon durchmessen, also ließ ich es dabei. Es war auch Dezember, und immer weniger Licht blieb, und immer fordernder biss die Kälte in schlecht bekleidete Beine, griff der Wind an die Ohren. Aber einmal am Tag lief ich durch diesen Wald und wusste selber nicht recht, wozu. Es gab mir die Gelegenheit, mein Leben für eine kurze Zeit an den Rand zu stellen, und etwas ganz anderes zu machen. Ich verband keinen Ehrgeiz mit dem Laufen, und nachdem ich meine Runde dreimal abgezählt hatte, und wusste, daß sie in etwa 7100 Schritte lang war, hörte ich auch auf zu zählen und fing an, beim Laufen frei meinen Gedanken nachzuhängen.

 

Natürlich gab es dabei vor allem ein Thema: Meine Geldsorgen: immer noch hatte ich keinen Job, die Mahnungen kamen jetzt zu Hauf, ich konnte nichts mehr bezahlen, und auch die Lebensvorräte der Schenkung von Uwe neigten sich wieder dramatisch, und ich stand vor einem Weihnachtsfest ohne jegliche Geldmittel. Immerhin hatte ich jetzt vom Amt einige Handlungsanweisungen bekommen, was ich tun musste, um wieder Geld zu sehen. Bea und ich brauchten den Status als offiziell getrennt und in Scheidung lebend (genau genommen nur das eine von den beiden, aber das konnte ich nie auseinanderhalten, was mir zwei Wochen kostete, in denen ich die falschen Formulare einforderte), anschließend brauchte ich einen Mietvertrag, den mir Bea aber nicht geben wollte, weil sie daran dachte, daß Haus zu verkaufen und mich vor die Tür zu setzen, wie sie mir unverhohlen erklärte. „Was willst du denn jetzt noch mit dem Haus? Willst du da draußen etwa alleine vor dich hinversauern? Zieh wieder in die Stadt und fang von vorne an! Du weißt, daß das der einzig vernünftige Weg ist.!“

„Ich weiß nicht, was am Stadtleben vernünftig sein soll,“ antwortete ich. In der Stadt kumuliert doch gerade der Wahnsinn unserer Zeit!“ Aber das war genau die Art von Statement, auf die sie mittlerweile allergisch reagierte, und ich brauchte abermals zwei Wochen, bis ich meine Argumentationslinie in die Richtung angepasst hatte, daß ich schon imstande sein würde, eine zuverlässige und angemessene Miete aufzubringen, und im Laufe des nächsten Jahres auch daran denken könnte, das Haus zu kaufen. Und so ertrotzte ich von ihr einen Mietvertrag, auf ein Jahr befristet, mit dem ich zum Amt gehen konnte, um endlich wieder an Geld zu kommen. Daran, einen Job zu suchen, der mir tatsächlich ermöglichen würde, das Haus zu kaufen, daran dachte ich überhaupt nicht. Ich hoffte darauf, durch das Amt an genügend Geld zu kommen, um ein bescheidenes Leben auf meiner Scholle fristen zu können. Ich hätte es besser wissen sollen.

 

Eines Tags ging ich rüber zu Ross und lud ihn für den nächsten Tag auf einen Tee zu mir ein, eine Einladung, die er gerne annahm. Seinen Theorien über die Menschwerdung hatte ich nicht wirklich weiter nachgehangen, im Internet war nicht viel darüber zu finden - zumindest wusste ich nicht, mit welchen Schlagworten ich einschlägige Seiten hätte herausfiltern können - und dann ließ ich es auf sich beruhen. Das der Mensch nicht vom Affen abstammt, nicht von baumbewohnenden Affen jedenfalls, das hatte ich mir jetzt in mein Weltbild hereinintegriert, aber dann hatte mich Vorgeschichte nie wirklich interessiert, von dem kurzen Staunen über ein Hügelgrab oder einer romantischen Schwärmerei für die freien Jäger der Eiszeiten einmal abgesehen. Geschichte war für mich die Geschichte meines Landes, Mecklenburg, und die war wie folgt gegliedert: In der letzten Phase seit 1990 entstanden die wenig nachhaltigen, flächenintensiven Vorstädte nebst Logistikzentren auf der grünen Wiese, die Anpassung also an das automobile Zeitalter. Prägend war natürlich auch die vorherige Phase, die DDR Bauten, die Trabantenstädte, die schmucklosen Zweckbauten, beginnend bei den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs. Die bürgerliche Phase davor, die Zeit der Junker und Bauern, der Könige und Fürsten, des langsamen technischen Fortschritts, diese zeit kann man hier unterteilen in die zwei Phasen vom dreißigjährigen Krieg bis zum zweiten Weltkrieg, in denen die inneren Städte ihr heutiges Aussehen sich erarbeiteten, und die Phase von der germanischen Eroberung bis zum dreißigjährigen Krieg, die Gründerzeit, aus der unsere Stadtmauern und Burgen stammen. Davor, also im 12. Jahrhundert und früher, hatten Slawen hier gewohnt und nahezu nichts von bleibender Qualität hinterlassen, sieht man von zahlreichen topographischen Namen ab, und vor den Slawen wiederum gab es ein zweitausend Jahre währendes Vakuum, von dem wir so gut wie nichts wissen, ehe wir einen letzten Blick in die Anfänge des Landes werfen können, wenn wir die Megalithsteine betrachten, die zwischen 5- und dreitausend Jahren zusammengetragen wurden. Damals war das vielleicht ein paradiesisches Land, mit kleinen Fürsten, die in persönlicher Beziehung ihre Tagesmarschreiche pflegten und hegten, die Handelsbeziehungen unterhielten und ab und an mit Ochs und Mann schwere Steine bewegten. Das war die gloriose Zeit der alten Bronze, wo Trichterbecherleute, eine Mischung aus jagenden Ureuropäern und ackerbauenden Einwanderern, sich mit einfallenden Indogermanen zu den Protogermanen der Vorhistorie verbanden. Aus der Zeit davor haben wir keine archäologischen Zeugnisse mehr, aber man weiß wohl, daß die die Ackerbauern, die vor 8000 Jahren nach Mitteldeutschland gekommen sind, nicht über die Lößgrenze im Harzschatten hinausgelangten, also nicht nach Mecklenburg kamen, wo also die Ureuropäer noch eine ganze Zeit Jagen und Sammeln konnten, bevor sie lernten, mit Pflug und Ochse auch die Mecklenburger Böden zu bezwingen. So, das ist in etwa die Geschichte der Menschen in diesem Land, und wenn wir weiter in der Zeit zurückgehen, dann ist die Geschichte eine Geschichte der Bewegungen des Eises, die die Landschaft formten. Ein Hügelrücken, die heutige Wasserscheide zwischen Nord- und Ostsee, zeigt an, wie weit das Eis einmal vorgedrungen war. Im Süden der Grenze, in Brandenburg, sind die Sandergebiete, wo sich auf unfruchtbarem Land Kieferwälder um klare Seen winden, in Mecklenburg dagegen sieht man, wo das Eis sich zurückzog. Die Hügel sind die Erde, die das Eis mit sich geführt hatte und zurückließ, als es sich schmolz, die Seen sind Eiseinschlüsse, die Täler zeigen die Richtung an, in die die Gletscher sich zurückzogen. Ose entstehen, und ein fruchtbares, aber schweres Land, reich an Möglichkeiten, die alle viel Arbeit erfordern. Weite Wege durch sumpfige Gelände und undurchdringliche Wälder kennzeichneten Mecklenburg für Jahrtausende.

Das ist die Landesgeschichte, so wie ich sie kenne. Das Land ist jünger als die Menschen, erst gab es Menschen, dann erst entstand Mecklenburg. Insofern ist die Geschichte der Menschwerdung aus hiesiger Perspektive eine Geschichte, die in Zeiten zurückreicht, bevor die Erde selber sich formte. Die Frage hatte sich mir also nie wirklich gestellt.

 

Nun hoffte ich auf ein interessantes Gespräch mit Ross, aber wir kamen gar nicht dazu. Stattdessen vermittelte er mir einen Job. Das ging ganz schnell. Ich hatte eine Mahnung offen liegen gelassen, und mit seinem Rundum Scan Blick hatte er ihn sofort erspäht und fragte mich glatt heraus, ob ich Geldprobleme hätte. Ich konnte nicht verneinen, und er hatte auf einmal lauter praktikable Lösungen parat. Ich konnte in der Stadt auf eine Baustelle gehen, die suchten immer Leute - die Stadt ist zu weit weg, wenigstens im Winter. Ich hab kein Auto - kannst du nicht gehen? fragte er in seinem Nasal in den Raum hinein, aber krank warst du auch. Aber du kannst doch schreiben. Dann kannst du auch tippen. Du kannst Korrekturlesen. Kannst du übersetzen? - Ich übersetzen? allenfalls Englisch.- Immerhin. Und wie ist es mit Basteln? Kannst Du Handarbeit? - Handarbeit!? -Damit lässt sich was verdienen? - Na klar, Du kannst Häckeldecken für Bauernmärkte machen, oder Blumengestecke oder auch, sag ma, kannst Du Bilder malen? Bilder? Niemand braucht doch einen Künstler! - Ne, das braucht niemand, aber Bilder schon, die kannst du dann in Einrichtungsläden Und Souvenirshops kaufen. Für ein Bild a4 gibts zehn Euro. - Da hab ich das Material ja noch nichtmal raus!

Wie sich herausstellte, konnte Ross durchaus mit anderen Menschen zusammenarbeiten, immer auf der Basis eines Auftrags- oder Dienstverhältnis. Er antwortete auf die kleingedruckten Annoncen und verabredete sich mit den Leuten zu praktischen Dingen. Am nächsten Tag hatte ich einige Dutzend Adventsgesteckzusammenbausets im Haus, die auf dem Weihnachtsmarkt verkauft werden sollten. 80 cent sollte ich für ein Gesteck bekommen, und das erste hatte ich nach zwei Stunden fertig. Das zweite ging dann schon in Anderthalb Stunden, aber nachdem ich in einer weiteren Stunde das Dritte gemacht hatte , merkte ich, daß die ersten beiden verdorben waren, weil ich nicht sauber genug gearbeitet hatte. Aber bald ging es besser, und an den nächsten Tagen schaffte ich schon zwei Stück pro Stunde. Dabei überlegte ich die ganze Zeit, in welcher Welt man so arbeitete, daß man die Dinger in fünf Minuten - das war die vertraglich festgelegte Zeit - zusammenfaltete. Ross wunderte sich darüber, wieso ich nicht mehr fertigstellte, und machte es mir dann vor: Kraut umwickeln, Kerzen einsticken, Bänder knoten, Engelsfigur einstecken, Schneeflocken verteilen, Spitzen abschneiden, einsprühen. 5 Minuten. Dann sah er mir zu, wie ich sorgfältig Zweig an Zweig hielt und den Draht da herumspannte, und dann lachte er. Ich hatte ihn bis dahin noch nie lachen sehen, und im ersten Moment klang es wie eine gehässige Gemeinheit, doch dann merkte ich, daß er einfach nur albern war. Er grinste, gab mir am nächsten Tag die 2 Euro 40, die ich verdient hatte, und setzte sich dazu. Jetzt fing er an zu reden und erzählte mir, daß er bis zum Sommer in berlin gearbeitet hatte, bei so einem Gentechnikinstitut, aber das sei alles streng geheim, wie es so ist in dem Bereich, und nach dem letzten Projektende habe er um eine Auszeit gebeten. Er zog aufs Dorf, um seine Gehirntätigkeit herunterzufahren, die in der Stadt unter ständiger Spannung steht, und die Arbeit war wirklich auch sehr enervierend. Leider ist das geheim, sonst würde ich dir das erzählen. - Was muss denn geheimgehalten werden? fragte ich. - Daraufhin sah er stumm vor sich hin und sagte nichts mehr. Ich bedrängte ihn mit verschiedenen Fragen. aber er schwieg nur, und schließlich schwieg auch ich. Dann begriff ich. Das tut mir leid. Ich muß mich entschuldigen. - Danke sagte er. Angenommen.

 

Nun, wo wir mehr Zeit miteinander verbrachten, kamen wir auch ins plaudern. Er fragte mich, was ich denn von der Theorie halte, der er mir neulich erzählt hatte, daß die Menschen im Wasser gelebt hatten. - Das war eine Theorie - fing ich an - nicht mehr und nicht weniger. Je nachdem, welche Annahmen man zugrunde legt, kommt man auf ganz verschiedene Arten und Weisen, die Geschichte zu erklären. Was aus einem Blickwinkel hieb- und stichfest bewiesen scheint, ist aus einem anderen schlicht falsch. Also nenne ich es eine Geschichte. Eine Geschichte kann wahr sein, muss aber nicht. Eine Geschichte erzählt immer ein zweites, nicht gesagtes, darunterliegendes, und das ist eigentlich das, worum es geht. Die Wahrheit ist zu oft nur eine moralische Monstranz, die auf den buchstaben verweist, wo es doch ums Ganze geht. Ich habe die Geschichte leider noch nicht so gut verstanden, als das ich sie wirklich begriffen hätte, deswegen möchte ich dich bitten, sie mir doch noch einmal zu erklären, und zwar diesmal von Anfang an und in chronologischer Reihenfolge, damit ich nicht nur verstehe, was du meinst, sondern auch begreife, was damit gemeint sein kann. Und da erinnere ich mich an die 15 Millionen Jahre, wo ein gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Schimpanse in dem europäischem Inselarchipel unter den tropischen Bedingungen des Myozäns lebte.

Gut - grinste er - das war schonmal ganz vernünftig aufgesagt. Aber deine Grundannahme ist völlig falsch: Du sprichst über den gemeinsamen Vorfahr von Mensch und Schimpanse so, als wäre es klar, das es den gegeben haben muss. Richtig ist aber, daß das nur eine Theorie ist, die auf bestimmten Rechenprozessen beruht, die entweder einen Rückschluss auf das gewesene zulassen, oder eben auch nicht. Es gibt also die Annahme, das es einen gemeinsamen Vorfahr gegeben hat, und von dieser Annahme geht die Theorie in der Tat aus. -

„Du glaubst nicht, das es den gemeinsamen Vorfahren gegeben hat?“ -

„Natürlich gibt es ihn! Er ist ein Rechenergebnis! Wir können den gemeinsamen Vorfahren genetisch berechnen. Aber wir wissen nicht, ob es ihn gegeben hat. Das sind zwei verschiedene Dinge.“

- „Gibt es denn einen vernünftigen Zweifel an der Aussagefähigkeit der Rechenergebnisse?“

„Wenn man die Geschichte anders erzählt, spielen diese Rechenergebnisse keine Rolle. Wir haben nur Bruchstücke eines komplizierten Ganzen, und wir können keine Zusammenhänge herstellen. Wir stellen Theorien auf, mehr aber auch nicht. Wir haben keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt unserer Theorien zu verifizieren.“ -

„Ist das jetzt Wissenschaft? fragte ich. Oder stellst Du jetzt die Wissenschaft in Frage?“ -

„Die Natur der Wissenschaft ist es, in Frage zu ziehen.“ -

„Also bitte, die Geschichte nochmal von vorne, beginnend mit dem gemeinsamen Vorfahren, so es ihn denn gegeben hat.“

„Ich muss mich absichern. In dem Moment, wo man beginnt, zu behaupten, das was man spricht, würde der Wahrheit entsprechen, in dem Moment beginnt die Wahrheit zu entschwinden. Wenn ich behaupte, so und so war es, dann fallen von allen Ecken und Enden Überlegungen über diese Behauptung her und widerlegen sie und verstricken sie in Widersprüche, und zweifeln sie an, und machen daraus ein psychologisches Phänomen, deswegen muss man sich immer auf den Standpunkt zurückziehen können, das alles nur Spekulation ist, aufrichtige Spekulation auf jeden Fall, aber nicht mehr als eine Behauptung, wie es gewesen sein könnte.“

„Und wie könnte es denn gewesen sein?“

„Also, vor 65 Millionen Jahren... „-

„Waren wir nicht bei 15 Millionen?“

„Hör zu und lerne!

„Oh Entschuldigung!“

„Also, vor 65 Millionen Jahren, nach dem katastrophalen Impakt des Chixcuclub, der die Vernichtung der Dinosaurier brachte, entwickelte sich auf der Erde eine neuartige Flora und Fauna. Säugetiere eroberten die freigewordenen Lebensräume und breiteten sich aus. Unter Anderem eroberten sie sich auch das Wasser, zunächst in den reichlichen warmen Flachmeeren. Dort entwickelten sich dann die Vorläufer von Walen und Delfinen, die schließlich das Meer als Lebensraum für sich erschlossen. Andere blieben in den Flachmeeren. Die Vorläufer der Menschen müssen wir uns als Lebewesen vorstellen, die primär im flachen Wasser und im Watt nach Muscheln suchte, die sie mit den Füßen aufspürten, und mit den Nägeln der Hände aufbrachen. Im flachen Wasser waren sie sowohl vor den Räubern des Meeres geschützt, als auch vor den Räubern des Landes. Vor den Räubern der Luft, die damals noch mächtiger und gewaltiger waren als die heutigen Vögel, schützten sie sich mit einer Mimikry, die wir heute noch als Haare kennen. Im Wasser ausgebreitete Haare machen es nämlich dem Vogel unmöglich, den genauen Standpunkt des Opfers zu bestimmen. So konnte sich also eine Art erhalten, die weder groß noch stark war, die sich im Kampf also schlecht behaupten konnte, die aber eine sichere Nische hatte, in der bequem zu leben war.“

„Das ist der Stand der Wissenschaft?“

„Das ist die Evolutionstheorie, so wie sie gewesen sein muß, wenn es die Evolution gab. Das sind deduktive Folgerungen aus dem Bau von Körper und Gehirn des Menschen. Wenn diese das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung sind, dann können wir diese aus dem Ist-Zustand zurückverfolgen. Oder hast Du eine andere evolutionäre Erklärung dafür, warum ein Mensch Haupthaar hat, aber kein Fell?“

„Klar! Um beim Laufen nicht zu schwitzen, nachdem sie auf zwei Beinen gehen konnten.“

„Und der Sinn vom Haar?“

„Weiß ich nicht. Hat keinen. Sexuelle Auslese vielleicht!“

„Ja, ein hübscher Gedanke!“ Ross lachte kurz, dann schüttelte er den Kopf, dann fing er wieder an zu lachen und hörte nicht auf. Hilflos lachte ich ein wenig mit, aber ich wußte nicht, worüber. Er sah mich an und mußte weiterlachen. Dann fasste er sich, entschuldigte sich kurz und sagte, „ich mußte mir das gerade vorstellen, wie zwei sich hinter ihren Haaren hindurch angucken und sich beide nicht sehen können, das fand ich so lustig, daß ...“ er brach ab. „Naja, ist auch egal. Sexuelle Auslese kann Sekundärmerkmale beeinflussen, aber das Haar muß einen Sinn haben. Und zweibeinig gingen die Menschen nach allem was wir wissen können schon immer, wenigstens die letzten 50 Millionen Jahre. Der Fuß des Menschen ist anatomisch derart archaisch, der geht auf die gemeinsamen Vorfahren von Säugetieren und Dinosauriern zurück. Na, wie dem auch sei. ich denke, Haare dienen der Mimikry, bis ich eine bessere Erklärung höre.“

„Ich wollte dich nicht unterbrechen!“

„Kennst Du die Kontinentaldrift?“ fragte erdann.

„Indien trifft auf Asien und der Himalaya entsteht. Afrika trifft auf Europa und die Alpen entstehen.“

„Sehr gut!“ Die Kontinente bewegen sich und Lebensbedingungen verändern sich. Vor 35 Millionen Jahren öffnete sich die Drake Straße zwischen der Antarktis und Südamerika, um die Antarktis herum entstand ein Meeresstrom, der die kalte Luft einschloß und die langsame Vereisung der Erde begann. Erst noch sehr langsam, aber dann wurde etwas anderes bedeutsam: Das Thetysmeer, die bislang immer offene Verbindung vom Mittelmeer zum Indischen Ozean, begann sich zu schließen. Das ist ein schleichender, Jahrmillionen währender Prozess, innerhalb dessen das Meer immer isolierter von den weiten Ozeanen wird, Teile verlanden, große Gebiete isolieren sich voneinander. Und schließlich, nachdem das Thetysmeer geschlossen war, und praktisch nur noch das Mittelmeer blieb, kam den Menschen des Thetysmeeres langsam aber sicher ihre Nische abhanden. Jetzt wurde es zudem immer kälter und das Wasser war irgendwann nicht mehr warm genug, um in ihm zu wohnen. So fingen die Menschen an, an Land zu gehen, ans Süßwasser gewöhnen, Nester an Land bauen. Und das war der entscheidende Entwicklungssprung. Denn hier passierten mehrere Dinge auf einmal. Der Mensch, mußt Du Dir vorstellen, war eine dem Tod geweihte Art. Ihr Lebensraum verschwand auf Nimmerwiedersehen. Und die letzten ihrer Art fingen an, die Alternativen auszuspielen. An Land mußten sie sich vor der Kälte schützen, aber sie konnten sich schützen, indem sie Felle nützten. Mit ihren geschickten Händen fingen sie an, Steine zu behauen, um Werkzeug zu haben. Ihre Füße mußten wohl oder übel auf dem harten Boden laufen, obwohl sie keine Anpassung daran hatten. Aber sie taten es. Die wichtigste Entwicklung aber passierte hier.“ Er zeigte auf seinen Schädel. „Wieso kann der Mensch sprechen? Hast du dafür eine Erklärung?“

Ich mußte passen. „Ist halt weiterentwickelte Sprache, wie auch die Tiere sie benutzen!“

„Nein, das ist etwas ganz anderes. Das hat mit dem Gehirn zu tun. Sieh mal, wir haben zwei Gehirnhälften, die arbeiten zusammen, so wie bei jedem Tier. Aber bei uns ist etwas passiert.

„Und was?“

„Die Wassermenschen lebten im Wasser. Das heißt, sie müssen um zu atmen, wie die Delfine, an die Oberfläche kommen. Und dafür müssen beide Gehirnhälften unabhängig voneinander schlafen können, damit eine immer die Luftversorgung gewährleisten kann. Als die Menschen nun notgedrungen an Land gingen, fiel diese Notwendigkeit auf einmal weg. Das heißt, die Gehirnhälften mußten neu lernen, miteinander zu kooperieren. Wo bisher jede für sich alleine stehen mußte, entstand nun die Frage, wie ein einziges Bewußtsein wieder generiert werden kann. Jede Gehirnhälfte hat ja einen legitimen Anspruch auf Führung. So entsteht das Bewußtsein aus der Auseinandersetzung zwischen den beiden zur Integration gezwungenen Gehirnhälften. Anstatt einfach zu denken, wie die Tiere es tun, auf Reiz folgt Verarbeitung und Reaktion, zieht der mensch sich selber in Zweifel. Nun kann aber kein lebewesen im Zweifel leben. Ein Löwe, der zweifelt, überlebt nicht lang. Eine Ameise auch nicht. Kein Tier kann sich Zweifel leisten. Es gelang dem Menschen aber, mit der Hilfe von Symbolen die beiden Gehirnhälften zu einer Art Waffenstillstand zu überreden, in dem wir seitdem leben. Wir eind als Geschöpfe einer Schizophrenie. Dies geteilt sein in Ich und Mich, ist der Grund und der Motor der gesamten geistigen Entwicklung des Menschen.“

Ich konnte überhaupt nicht fassen, wie einleuchtend das war. Auf einmal waren alle Zweifel hinweggefegt, alle Philosophie erklärt, alle Historie gedeutet. Aber wenn das so einleuchtend war, warum kam dann da kein Mensch drauf? Was war der Haken an der Sache? Ich konnte ihn beim besten Willen nicht finden, und deshalb sagte ich anerkennend: „Das ist eine verdammt gute Theorie!“

„Das finde ich auch“ sagte er.

„Und? Was ist der Haken an der Sache?“

Wieder lachte er. „Es gibt so viele Haken!“ Ersteinmal gibt es überhaupt keine Beweise. Wir haben keine Fossilien vom Wassermenschen. Gut, vielleicht wurde nicht danach gesucht, vielleicht sind sie verschollen, vielleicht haben wir sie gefunden, aber erkennen es nicht, weil wir die Augen nicht aufmachen. Wer weiß? Alle Theorien haben ihre Schwachstellen. Ich behaupte nicht, daß das stimmt, so wie ich es erklärt habe. Aber eine bessere Erklärung habe ich nicht.“

Ich überlegte. Eine bessere Erklärung hatte ich auch nicht. Ich würde abwarten müssen, wie sich dieser Gedanke in einigen Tagen anfühlen würde. Irgendwann waren wir auch fertig mit der Arbeit und Ross verabschiedete sich. Er blieb nie länger als nötig.

 

Aber es gab noch einige Adventsgesteckbastelsets zusammenzustecken, und so erläuterte er mir beim nächsten Mal Folgendes:

„Weißt Du, wenn Du nach den Beweisen für diese Theorie fragst, dann sind die natürlich ausgesprochen dünn. Aber Du mußt bedenken, daß wir einen quasi religiösen Wissenschaftsbetrieb haben, der alles das, was seiner postulierten Wahrheit entgegensteht, nicht nur ignoriert, sondern aktiv unterdrückt. Gewisse Kreise scheinen ein lebhaftes Interesse daran zu haben, daß wir an die Evolutionstheorie, inclusive der eigentlich widerlegten Version der Entwicklung vom Affen zum Menschen, glauben, daß wir uns auf ein materialistisches Weltbild zurückziehen, in dem der Geist und die Seele nur eine untergeordnete, von der Materie abgeleitete Rolle spielen. Warum das so ist, habe ich noch nicht begriffen, denn in die Verschleierung unpassender Fakten wird viel mehr Energie hereingesteckt, als nötig wäre, wenn es einfach nur darum ginge, sie zu ignorieren. Diese Dinge werden aktiv unterdrückt und bewußt diffamiert, so daß man eben nicht davon sprechen kann, der Wissenschaftsbetrieb habe blinde Flecken, die er mit der Zeit schon einräumen muß, sondern es geht um einen Kanon von Glaubenssätzen, der um jeden Preis und wider besseren Wissens zu verteidigen ist. Es geht also um eine Religion.“

„Du zweifelst an der Wissenschaft als solcher? Glaubst du, die Bibel hätte recht?“

„Ich bin Wissenschaftler. Ich zweifle nicht an der Wissenschaft, ich sehe aber, daß die aktuelle Wissenschaft in gewissen Glaubenssätzen feststeckt, die den Blick auf die historische Wahrheit verstellen, ebenso wie den Blick auf die größeren Zusammenhänge, in denen wir uns bewegen. Es kann nicht sein, daß der Geist aus der Materie entstanden ist, denn wie man auch sucht und probiert, aus der Materie alleine, nur aus dem chaotischen Wirken der Elemente untereinander, kann gar kein Leben entstehen. Leben kann erst da entstehen, wo es ein Streben nach komplexeren Ordnungen gibt, ein Streben nach Selbsterhaltung, das ist Voraussetzung für die organische Bildung von Leben, denn die Materie alleine würde immer wieder in das Chaos zurückfallen, welche Strukturen auch per Zufall gebildet werden können. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wille, komplexere Strukturen zu erhalten, ist aber schon eine geistige Qualität, und die liegt der Bildung organischen Materials zugrunde, sie ist keine Folge von ihr. Es gab also zunächst den Geist, dann die belebte Materie, und wie ich das denke, gab es auch erst den Geist, und dann die unbelebte Materie. Aber das ist nur eine Vermutung.“

„Und das Leben ohne Geist nicht entstehen kann, hältst du für bewiesen?“

„Beweise sind festgefügtes Wissen und verwandeln sich in Glaubenssätze. Man muß vorsichtig sein mit den Beweisen, denn ein und derselbe Fakt kann, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, verschiedene Schlußfolgerungen hervorrufen. In der Wissenschaft ist nie etwas bewiesen, es gibt nur Plausibilitäten und Anwendungen. Was anwendbar ist, beweist sich durch die Praxis, aber eben auch nur im praktischen Sinn, nicht erkenntnistheoretisch, und was plausibel ist, kann man getrost glauben, aber beides ist kein Beweis im letztgültigen Sinn. Beweise gibt es nur im Glauben und in der Religion, und dort sind sie meist bloße rhetorische Tricks, oder bestenfalls funktionierende Geistestechniken. nein, es gibt keine Beweise. Nicht für uns Menschen, nicht für unser Gehirn. Unser Gehirn kann ja gar nicht objektiv denken, Bewertungen und subjektive Entscheidungen sind Teil seiner Arbeitsstruktur, deswegen ist all das, was Menschen behaupten, bestenfalls anwendbar und plausibel, aber nie Wahr im strengeren Wortsinn.“

„Du meinst also, zum Beispiel das Periodensystem der Elemente sei willkürlich festgelegt?“

„Für unseren Wissensstand scheint es gut zu funktionieren, was wir da herausgefunden haben. Das Periodensystem ist eine schematische Darstellung der atomaren Struktur der Elemente, die wir kennen. Es ist jedenfalls plausibel und anwendbar, es ist also keineswegs willkürlich, und mit unserem Wissen daran zu zweifeln, wäre unsinnig. Wir wüßten jetzt nicht, von welchem Standpunkt aus daran zu zweifeln wäre. Aber es mag sein, daß wir diesen Standpunkt irgendwann erreichen, und dann eine Sicht haben, aus der das Periodensystem zwar noch nicht falsch, aber doch eingeschränkt und unbrauchbar wirkt. Das ist aber blanke Spekulation, mehr nicht, absolut fruchtlos.“

„Was denn nun? Stimmt die Wissenschaft, oder stimmt sie nicht?“

„Natürlich stimmt die Wissenschaft, sie ist das, was Wissen schafft. Aber sie kennt keine Wahrheit, sie kennt nur Fakten. Die Wissenschaft geht da fehl, wo sie Fakten mit Wahrheit verwechselt. Und darüberhinaus gibt es Bereiche, in denen die Wahrheit offenbar bewußt und mit einer gewissen kriminellen Energie verschleiert wird. Das betrifft die Evolutionstheorie, also die Vor- und Frühgeschichte im Ganzen, das betrifft auch die Medizin, das betrifft alle Geisteswissenschaften, mal mehr, mal weniger, je nach Fach und gesellschaftspolitischer Lage, und das betrifft natürlich auch alles das, was aus militärischen oder machtpolitischen Gründen geheimgehalten wird, und das wiederum ist enorm viel, mehr als du denkst, oder andersherum ausgedrückt: Wir wissen nicht das, was zu wissen ist, sondern wir wissen nur das, was uns zu wissen erlaubt wird.“

 

Nach Weihnachten entspannte sich meine Lebenssituation deutlich. Ich hatte nun einen Job, der zwar miserabel bezahlt war, dem ich aber von zu Hause aus nachgehen konnte. Es ging um Übersetzungen aus dem Englischen, Bahnhofsliteratur. Wenn ich aber gehofft hatte, auf diese Weise als Übersetzer in Büchern genannt zu werden, sah ich mich getäuscht. Meine Übersetzungen fertigte ich als Subunternehmer für einen Übersetzungsbüro an, daß seinen eigenen Namen verwendete. Sei es drum, Bea erbarmte sich, die aufgelaufenen Versorgungsrechnungen des vergangenen Jahres zu bezahlen, Strom und Gas, ab Januar stand ich auf null und konnte mit den bescheidenen Einnahmen wenigstens dafür sorgen, die laufenden Rechnungen zu zahlen und zu essen. Allerdings hatte ich kein Geld übrig, meiner Tochter das WG Zimmer zu finanzieren, daß sie für meine Begriffe seit Monaten nicht bezahlen konnte. Ich war nicht wirklich froh über ihre Entwicklung. Sie hatte mich in den vergangenen Monaten nur zweimal besucht, und jedesmal sah sie schlecht aus und war enttäuscht, daß ich ihr kein Geld geben konnte. Nun hörte ich allerdings nichts mehr von ihr. Ich rief sie an, und mürrisch beantwortete sie meine Fragen, ohne etwas dabei auszusagen. Ja, es gehe ihr gut, nein, sie habe keine Probleme, das Geld, ja, fehle immer, aber sie habe einen Nebenjob. Die Schule läuft. Behauptete sie, und das konnte ich ihr glauben. Die Schule hatte sie schon immer sehr ernst genommen. Der Nebenjob allerdings, von dem erfuhr ich, als ich, es ist peinlich das zuzugeben, aber dann ist es doch normal, daß alleinstehende Männer (nicht nur die) sich der frei verfügbaren Pornographie bedienen, um den Stau ihrer Körpersäfte abzubauen. Und so, wenn der Saft wieder hoch steht, suche ich nach einem anregendem Filmchen bei Seiten wie Youporn oder Pornojenny. Filme von sich liebenden Paaren, aufgenommen mit einer hidden camera. Oder die professionell