Baden in Pommern

 

Das wir in der Nähe einer alten Grenze wohnen, wußten wir schon immer. Der Feldweg hinter unserem Haus führt in ein Wäldchen mit einem kleinen Bach, und da war mal eine Grenze. Welche das Grenze das genau war, das konnte ich nie so genau sagen. Erst in letzter Zeit fing ich an, mich für die Geschichte und die Geschicke des Landstrichs zu interessieren, und nun weiß ich es: Ich lebe auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Mecklenburg-Schwerin, während die andere Seite des Baches schon zu Mecklenburg-Strelitz zählt, dem kleinsten Großfürstentum des ehemaligen Deutschen Reichs. Die Grenze existierte in dieser Form von 1701 bis 1934, also lange genug, um Wirkung entfaltet zu haben. Das pittoreske Mecklenburg-Strelitz, immer eng an Berlin und Preußen angelehnt, nicht zuletzt durch die persönlichen Beziehungen der Herzogsfamilie zum preußischen Königshaus, vereint abgelegene Provinzialität mit dem Hauch eines Adelsstolz, der sich auch in den klassiszistischen Bauwerken der Zeit zeigt, das Belvedere bei Neubrandenburg, die neugegründete Stadt Neustrelitz, das Schloß Hohenzieritz, in dem die preußische Königin Luise starb. All das ist Stoff für „Strelitzien“. Natürlich war der kleine Landstrich zwischen Fürstenberg und Friedland zu klein und auch zu arm, um den weltmännischen Bestrebungen der Fürstenfamilie wirklich gerecht werden zu können, und so war Strelitz, wie wohl jedes Kleinstfürstentum, hoffnungslos verschuldet. 1813 war der Streltizer Herzog Karl II der erste, der es wagte, aus dem Rheinbund auszutreten und sich an die Seite Preußens gegen Napoleon zu stellen, wofür er auf dem Wiener Kongreß mit dem Großherzogtitel belohnt wurde. Solcherart ist also die Geschichte Mecklenburg-Strelitz, auf das ich von meinem Arbeitszimmerfenster aus sehen kann, in dem ich aber nicht lebe. Ich lebe auf dem Gebiet des ehemaligen Mecklenburg-Schwerin, im letzten Haus vor der Grenze. Es ist das Penzliner Land, das eine ganz andere geschichte aufzuweisen hat. Penzlin, immer im Schatten des nahen und größeren Neubrandenburgs, hat eine alte Burg vorzuweisen mit einem Folterkeller, in dem zu den Zeiten der Landesteilung als Hexen gebrandmarkte Frauen noch inquiriert wurden, so die Benigna Schulzen, die einen Prozess anstellte zur Wiedererlangung ihrer Reche nach der willkürlichen Folter, die nicht zuletzt durch Neubrandenburger Amtshandlungen begründet war. Das Verhältnis zwischen Penzlin und Neubrandenburg ist also durchaus gespannt, und bei einem Fußballspiel der Verbandsliga zwischen den beiden Städtvertretungen bezeichnen die Neubrandenburger noch heute die Penzliner als Hexen. Der Vorwurf ist natürlich polemisch, hat aber seinen Kern. In Penzlin leben noch heute Frauen mit der von den Männern so gefürchteten Eigenmächtigkeit. Zum Warzen besprechen ging man noch vor zwanzig Jahren nach Penzlin und heute wächst langsam wieder ein Selbstbewußtsein, daß darauf beruht, von der großen weiten Welt unabhängig zu sein, und in dem eigenen kleinen Bereich nach eigenem Willen verfahren zu können. Penzlin hat sich weitgehend gegen die Windradflut gewehrt und ist stolz auf seine eigene kleine Tradition. Als die Deutschen, das waren damals die Sachsen, im 13. Jahrhundert das Land tributpflichtig machten, gab es keine systematische Ausrottung der slawischen Glaubensreste, die bis ins 16. Jahrhundert weitgehend unbeachtet praktiziert werden konnten. Das ist die Wurzel der Penzliner Hexenkunst, auch wenn der Dreißigjährige Krieg den Großteil der alten Bevölkerung vernichtete und von einer eigentlichen Kontinuität nicht gesprochen werden kann. Nach dem Dreißigjährigen Krieg begann dann das euphemistisch „Bauernlegen“ genannte Verbrechen: Den Rittern wurde erlaubt, sich das Land der freien Bauern zu nehmen und diese zu versklaven. Ein Unrecht, das nie gesühnt wurde, und mehr noch: die sozialistischen Enteignungen, die vor diesem Hintergrund mehr als gerecht erscheinen, wurden im Zuge der Wiedervereinigung rückabgewickelt, so daß noch im 21. Jahrhundert die Nachkommen der Ritter sich Land einklagen können, daß ihre Vorfahren einst geraubt hatten. Es ist also kein Wunder, daß die Mecklenburger keinem Regierenden trauen. Sie wissen nur zu gut, daß alles Recht und alle Macht immer von den Reichen gegen die Armen verwendet wird, und daß es nichts nutzt, dagegen aufzumucken. Was nutzt ist, so zu tun, als verstehe man nichts, und so gut es geht alles zu ignorieren, was von oben kommt. Nicht aufsässig, aber trotzig und stur. Mit den Mecklenburgern ist eben kein Staat zu machen. Das macht es erträglich, hier zu wohnen. Die Gehirnwäsche wirkt hier nicht so sehr. Die Mecklenburger Landbewohnermögen vielleicht begriffsstutzig sein, dumm sind sie nicht und vor allem nicht verrückt, wie die meisten Deutschen, die in Städten und stadtähnlichen Dörfern leben.

Die Rückständigkeit Mecklenburgs fußt natürlich auf einer solchen Geschichte, und was Penzlin betrifft, ist die 1701 entstandene Randlage an der neuen Grenze ein weiterer Entwicklungsbremser. Denn es ist ja nicht nur Mecklenburg Strelitz, daß im Osten liegt, es gibt auch Pommern im Norden.

Mecklenburg heißt ja heute „Mecklenburg-Vorpommern“, und so gewöhnt man heute ist, die beiden Namen in einem zu verbinden, es ist nichts anderes als eine künstliche Vereinigung zweier Landstriche mit einer völlig unterschiedlichen Vergangenheit. Vorpommern, das geschichtlich zu Preußen gehört und damit eigentlich Brandenburg hätte zugeschlagen müssen, ist nur der westliche Rest des Landes Pommern, alleine zu klein, um als Bundesland gelten zu können, und mit Brandenburg nur durch eine kleine Grenze im nun äußersten Osten der Republik verbunden. Die Mecklenburgisch-pommersche Fusion ist also aus verwaltungspraktischen Gründen durchaus nachzuvollziehen. Aber die Pommern in Mecklenburg sind letztendlich wie die Franken in Bayern. Sie sind keine Mecklenburger, sie sind Pommeraner und Bürger des Landes Mecklenburg-Vorpommern, genau wie der Franke Franke ist und kein Bayer, nur Bürger von Bayern. Allerdings, für die meisten spielt das alles eh keine Rolle. Die heutigen Verwaltungsgrenzen ignorieren gekonnt alle historischen Tatsachen, und auf einmal gehören Dörfer zur mecklenburgischen Seenplatte, die weder mecklenburgisch sind noch Seen in ihrer Nähe haben. Die Grenze zwischen Mecklenburg und Pommern ist ja so alt, daß sie anhand geographischer Begebenheiten nachvollziehbar ist: Das Mecklenburgische ist geprägt durch die sanften Hügelrücken der Endmoränen, die das Eis vor zehntausend Jahren zurückgelassen hat, mit den zahlreichen Wassereinschlüssen, die wir heute als Seen kennen. Das Pommersche hingegen, zumindest das vorpommersche, westlich der Oder gelegene Land, ist hingegen flach, zu großen Teilen ehemaliges Sumpfgebiet, ohne Seen, aber mit der Nähe zum Meer.

 

Erst dieses Jahr habe ich herausgefunden, daß ich mit dem Fahrrad nur zehn Kilometer brauche, um nach Pommern zu gelangen: Runter nach Chemnitz Bahnhof, rauf nach Chemnitz, weiter durch den Wald nach Pinnow, und hinter Pinnow, auf dem langen Feldweg nach Wildberg, liegt irgendwo diese alte Grenze, die Pommern von Mecklenburg trennt, die preußische Weltmacht von dem provinziellem Mecklenburg. Wildberg liegt in Pommern. Dort wirkt alles größer. Die Gutshäuser, die Schuppen, die Dorfanlagen. In Pommern sind die Wege noch weiter als in Mecklenburg, die Dörfer atmen ein anderes Selbstbewußtsein, sind großzügiger angelegt, weitläufiger.

Es geht halt noch ruhiger als in Mecklenburg, und das ist in Vorpommern.

Auf der Karte fand ich dann das Dorf Fouquettin, und ich dachte mir, der französische Name weist darauf hin, daß das Dorf zu Pommern gehört, nicht zu Mecklenburg, und in der Tat ist es so, daß der Graf Fouquet von Friedrich dem Großen das Land erhalten hatte, um dort mit zehn Bauernstellen zu siedeln. Die Geschichte des Dorfes Fouqettin ist eine Geschichte des Scheiterns, die Böden waren so schlecht, daß die Bevölkerung sich immer wieder austauschte, aber das Prinzip wird klar: Weitläufige Einflüsse aus der großen Welt, die gibt es in Pommern, daß das Hinterland eines Königshauses mit Großmachtambitionen ist. Mecklenburg hingegen ist immer noch das letzte slawische Fürstentum Deutschlands, und eifersüchtig darauf bedacht, daß zu bleiben und sich nicht vereinnahmen zu lassen, und sei es auf Kosten jeder progressiven Entwicklung. Das ist zu sehen, an den Dörfern hier. Es gibt also drei Länder in unmittelbarer Umgebung, und man sieht es den Dörfern an, von wo sie stammen: Aus dem behäbigen und selbstzufriedenem Mecklenburg-Schwerin, vergessen an der Randlage einer abgeschiedenen Provinz, aus dem pittoresken, fast schon skurrilem Mecklenburg-Strelitz, daß die Anbindung an die Welt sucht und deshalb lebhafter wirkt, sorgfältiger gepflegt, immer ein wenig repräsentatievr, oder aus dem alten Pommern mit dem Stolz einer Weltmachtprovinz und der damit einhergehenden Größe.

Und dann gibt es noch Gevezin. Gevezin ist das Dorf in nordwestlicher Richtung, und es gehört zu Mecklenburg-Strelitz, obwohl es mit Strelitz geographisch nicht verbunden ist. Denn vom Kernland wird es getrennt durch den schmalen Streifen Land von unserer Wilhelmshöhe bis nach Chemnitz. Gevezin ist damit eine Exklave von Strelitz, und natürlich, auch hier atmet es sich anders. Wenn man von uns aus linkerhand fährt, und den alten Weg von Passentin nach Gevezin, dann stehen in der Niederung links, auf den Wiesen von Gevezin, stattliche Eichen, die dem Vieh Schatten im Sommer spenden. Der kleine Wald zur rechten, den man von uns aus auch übers Feld erreicht, wartet mit einem obskuren „Elfentanzplatz“ auf, wo in eine Eiche längst vergessene Herzen geritzt wurden.

 

So sieht es aus, bei uns in der Gegend. Wenn man die alten Karrenwege fährt, die früher die Dörfer miteinander verbunden haben, dann macht man sich eine ungefähre Vorstellung davon, wie das Reisen zu dieser Zeit ausgesehen haben muß. Mit meinem Fahrrad erreiche ich auf solchen Karrenwegen selten Geschwindigkeiten über 14 km/h, meist zockel ich mit einer guten Laufgeschwindigkeit über die zahlreichen Huppel, und denke, damals konnte man auf einem Pferd vielleicht schneller vorankommen, aber nicht mit einem Fuhrwerk. Wenn man auf einem Fuhrwerk saß, dann dauerte es, von Dorf zu Dorf eine halbe Stunde, und dann konnte man an der Nordostgrenze Mecklenburg-Schwerins entlangfahren, von Passentin nach Chemnitz, von Chemnitz nach Pinnow, von Pinnow nach Gädebehn, von dort nach Friedrichsruh und dann entweder weiter nach Knorrendorf, Richtung dem immer noch mehrere Dörfer entfernt liegendem Stavenhagen, oder nach Kastorf, weiter an der Grenze entlang. Der letzte Abschnitt war länger, durch die Niederung des Kastorfer Sees, aber daß die alte Straße dort entlangführte, das sieht man noch heute an den zahlreichen Hollerbüschen, die ihre Früchte dort einer uninteressierten Menschheit anbieten. Hollerbüsche, das weiß man, stehen dort, wo Menschen gewesen waren. Hinter Kastorf liegt dann Wolde, und Wolde ist ein Dorf, das zur einen Hälfte in Mecklenburg, zur anderen aber in Pommern liegt. Man hat dort an die ehemalige Grenze zwei Zollwächterhäuschen aus Pressholz hingestellt und eine Hinweistafel am ehemaligen Zollhaus „zum Gasthoff“ angebracht. Wolde war, so hat mir das jemand erklärt, einmal das kleinste Land des gesamten Deutschen Reichs gewesen, einmal der Burgberg als selbständige Insel zwischen Mecklenburg und Pommern, aber ich weiß noch zu wenig über diese Geschichte, um sie wirklich und wahrhaft glauben zu können. Zu lesen ist, daß sich einst der Bernd von Maltzahn, der sich mit Brandschatzungen einen unrühmlichen Namen gemacht hatte, vom Pommernherzog in Wolde gestellt wurde. Die Belagerung endete mit einer Explosion im Pulverturm des Belagerten, der daraufhin in ketten gelegt, und, wie damals auch üblich, alsbald begnadigt und nach penzlin entlassen wurde, wo er weiter Reichtümer anhäufen konnte, ohne dem Pommernherzog ins Gehege zu kommen.

In Wolde läßt sich der Burgberg noch erahnen, eine Kirchenruine aus dem 19. Jahrhundert steht darauf, und am Fuß ist ein Findling, aus dem jemand kunstfertig eine Sitzgelegenheit herausgeschnitten hat. Den Woldern gelang es zudem lange Jahre, weder nach Mecklenburg, noch nach Pommern Steuern zu zahlen, in dem sie die Fürsten gegeneinander ausspielten. Ähnlich muß es im benachbarten Zwiedorf sein, wo die Grenze schon im Namen steckt. Jemand hat an den Weg nach Zwiedorf auf einer Strecke von einem Kilometer große Steine hingelegt, die vielleicht den alten Grenzverlauf markieren. So enau ist das ja nicht festzustellen. Wer sich für solche Dinge interessiert, stößt ja schnell an die Grenzen von Googles Weisheit und muß sich den Rest aus Hinweisen, Indizien und Gesprächen zusammenreimen. Literatur über die Einzelheiten der damaligen mecklenburgischen Geschichte sucht man im wesentlichen vergebens, aber Wildberg hat eine Chronik herausgebracht, die sich zwar nicht über Amazon bestellen läßt, aber vielleicht antiquarisch irgendwo erhältlich ist. Bis dahin bleibt es bei den Spekulationen.

 

Nun, was keine Spekulation ist, ist, daß das Ostufer des Kastorfer Sees zu Pommern gehört. ich würde von hier aus nicht den Grenzweg Mecklenburg-Schwerins benutzen, sondern von Pinnow aus geradeaus nach Pommern durchfahren. Es gibt eine Stelle, da denke ich immer, hier muß die Grenze sein. Auf einmal schmeckt die Luft anders, und hinter dem Bruch liegt ein altes Gelände mit vielen Hollerbüschen, wo einstmals eine Behausung gestanden haben muß. Ein Grenzhaus? Ein Gasthaus gar? Das kann ich nicht wissen. Ich kann dort nur den Holunder sammeln. Und dann weiter nach Wildberg fahren und von dort zum Kastorfer See. Da ist eine schöne Badestelle, nach Pommerscher Art großzügig geschnitten, mit einigen, weit verstreuten Sitzbänken zum Umziehen und einem schönen großen Steg. Als ich dort hinfuhr war es schon Anfang September, die Badesaison eigentlich schon vorbei, aber es gibt ja die Nachzügler, die die Saison verlängern, und es hat sich in den letzten jahren ja mehr und mehr dazu entwickelt, daß der September noch ein echter Sommermonat ist, und dieses Jahr mache auch ich mit beim Nachsaisonbaden, nicht mehr kraftvolle Delphine üben, wie noch im August, sondern einfach für ein paar Minuten eine kleine Runde drehen, den Kopf über Wasser und die Haare trocken haltend. Das ist Baden in Pommern, obwohl, wenn man es genau nimmt, gehört der See noch zu Mecklenburg, und zu Pommern gehört nur die Badestelle. Wenn ich in den See gehe um zu schwimmen, bin ich also eigentlich schon wieder in Mecklenburg. Wenn ich Lust habe, fahre ich auf dem Rückweg den kleinen Umweg über die Exklave Gevezin. Dann führte mich mein kleiner Nachmittagsausflug durch drei Länder.