Die Erde ist der Mittelpunkt der Welt

 

Das sogenannte geozentrische Weltbild gilt als rückständig und antiwissenschaftlich, seitdem man weiß, daß sich die Erde um die Sonne dreht. Daraus entstanden ist das Heliozentrische Weltbild, in dem die Sonne der Mittelpunkt des Universums sei. Unbeachtet der Tatsache, daß die Sonne mitnichten das Zentrum des Universums ist, sondern nur ein kleiner, unbedeutender Ausläufer eines unbedeutenden Spiralarms der Galaxie, die ihrerseits nur eine unter vielen ist, hat sich das Heliozentrische Weltbild bis heute eine Gültigkeit behalten, die daran abzulesen ist, daß der Begriff des „Kosmologischen Prinzips“, mit dem das Weltbild eines Universums ohne Mittelpunkt bezeichnet wird, den weitaus meisten Menschen nicht geläufig sein dürfte. Wir sind es zufrieden mit der vereinfachten Annahme, die Sonne sei zwar nicht der Mittelpunkt des Universums, aber immerhin der unseres Sonnensystems und damit der Mittelpunkt all dessen, was uns in unserem Leben irgendwie angeht.

 

Warum halten wir aber wider besseren Wissens an einem überholten Begriff fest?

Die Antwort ist einfach: Wir haben errechnet, daß das Universum keinen Mittelpunkt besitzt, aber wir können ohne die Definition eines Standpunktes nicht denken. Ein mittelpunktloses Universum ist undenkbar, und zwar deshalb, weil jedes Denken ein Subjekt voraussetzt, und jedes Subjekt einen Standpunkt braucht, von dem aus es beobachten kann. Und damit stellt sich die Suche nach dem Mittelpunkt noch einmal ganz neu:

Das Zentrum des Universums, so müßte man aufgrund dieser Überlegungen sagen, ist der Beobachter des Universums. Nur, indem der Beobachter seinen Standpunkt definiert, kann er Aussagen über das Universum treffen, und mangels eines objektiven Standpunkts, von dem aus seine Position definiert werden könnte, kann man nur die Position nehmen, die er tatsächlich innehat. Das wäre das humanozentrische Weltbild, in dem jeder voller Berechtigung sagen kann: Ich bin der Mittelpunkt des Universums. Es klingt wie ein Scherz, ist aber die logische Konsequenz aus den derzeit als gültig geltenden mathematischen und physikalischen Tatsachen.

 

Ich möchte aber noch einen Schritt weiter gehen. Das humanozentrische Weltbild krankt daran, daß eine Gesellschaft, ein gemeinsames Denken, wie es in der Sprache realisiert wird, in ihm im Grunde nicht existiert. Jeder existiert für sich als Zentrum seines Universums. Die Lebenswirklichkeit ist eine andere: Jeder existiert zwar für sich, aber gemeinsam mit den anderen Menschen innerhalb der gemeinsamen Übereinkünfte. Worauf aber können wir diese gemeinsamen Übereinkünfte begründen. Was ist der Mittelpunkt der Gesellschaft?

Und an dieser Stelle helfen uns die uralten Überlieferungen, die alten Vorstellungen wieder weiter: Wenn jeder von sich ausgeht, dann ist es immer noch so, daß jeder auf der Erde steht, und die Erde unser gemeinsamer Mittelpunkt ist.

In der Sphaera mundi heißt es in der Übersetzung von Konrad Megenberg (1348):

„Daz auch das ertreich ze mittel in dem firmament ste, daz vind wir also: wo ain mensch ist auf ertreich, so scheinend im die stern in der selben groezze, si sein ze mittelst an dem himel oder in irem aufgange oder in irem untergange. Und daz ist davon, daz daz ertreich geleich abstet von allen enden dez himels.“

Wenn wir also begreifen, daß die Erde der Mittelpunkt ist, weil die Enden des Himmels in jeder Richtung gleich weit von ihr liegen, dann begreifen wir vielleicht auch wieder, daß wir eine gemeinsame Erde haben, um die wir uns zu kümmern haben.

Vielleicht ist die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums. Aber sie ist der Mittelpunkt unseres Universums.