Eine westslawische Geschichte 

 

 

 

536 n.Chr. Zwischen Elbe und Oder wurden die Dinge immer schlechter.

Man war gewohnt gewesen,

vom reichen Land in aller Ruhe zu leben,

doch die Geschichten aus dem fernen Süden,

von dem riesigem Reich Roma Imperio

und was von ihm übrig geblieben ist,

die Geschichten, die niemand hören wollte, weil sie das bequeme Leben störten,

diese Geschichten ebbten nicht ab, im Gegenteil,

alles veränderte sich,

die Jungen suchten ihr Glück in offenen, fruchtbaren Ländern,

in denen die Schwerter sprachen

Andere kamen zurück, die alten Gewissheiten schwanden,

und zu all dem kam jetzt noch eine Reihe von schlechten Jahren dazu,

die langsam Jeden ausgezehrt und mürbe machten,

und als die Dinge kaum noch hätten schlechter laufen können,

und Alle schon dachten sie hätten sich dem Unvermeidlichem schon ergeben,

da kam das Unheil über sie

 

Als das Unheil über sie kam.

Hatten sie schon lange vergessen,

die merkwürdigen Monumentalgräber zu erbauen.

Sie hatten keine Zeit mehr für solche Dinge.

Und Viele dachten, sie hätten nicht gelebt,

als hätte das Leben ihnen etwas vorenthalten.

 

Dann verdunkelte sich der Winter

und eine eisige Kälte legte sich über das Land,

Und der Sommer mocht nicht werden

und sie stritten sich um bittre Früchte

die ein wackrer Strauch ihnen gab.

Und zusammen weinten sie in ihrer Not

und starben einer nach dem andern.

 

Und ein kalter Winter setzte an,

und keine Sonne konnt noch wärmen

und kein Licht nicht den langen Tag,

und graue kalte dunkle Luft

Und Manche gingen in Verzweiflung

und Manche kamen in Verzweiflung

Doch wer im zweiten Jahr nicht ging, der ging im dritten,

das immer noch nicht besser war

Wohin auch, fort nur in den Süden

dort irgendwo muss Sonne sein.

 

Im siebten Jahr nun dachte man, man hätte sich schon an alles gewöhnt, und von nun an könnte man anfangen, aus der Situation das Beste zu machen und vielleicht wieder einen bescheideneren Wohlstand sich erarbeiten, und Kinder kriegen und weiter leben, da wurde alles auf einmal noch schlimmer als es gewesen war. Der zweite Vulkan, Volkan, eine Mischung aus Wolke und Orkan, eine gewaltige Staubwolke, die durch die Athmosphäre schwebt und die Sonne verdustert. Der Vulkan bricht sich mit unvermeidlicher Kraft Bahn, und abermals gab es einen dunklen , kalten Winter und einen Sommer ohne Licht, und ein Überleben war nicht zu denken, und man ging, so weit einen die Füße noch trugen, irgendeiner Hoffnung entgegen

Nach zwanzig Jahren lebte von Zehnen noch Einer. Oder weniger, die Länder waren verlassen. Und wer noch lebte, lebte für sich, und wusste und hörte nichts von Niemanden, und Niemand wusste von Jemandem dort draußen.

 

Viele von denen, die weggegangen waren, hatten es besser getroffen. Sie waren Teil einer sächsischen Herde, die versuchte, das Land in dem sie nun waren, für sich zu behalten. Mit den Friesen verband sie ein Zweckbündnis, denn die Friesen brachten Schiffe rüber nach Angelland, wo es fruchtbares Land gab, dass man sich erobern konnte.

Die Völkerwanderung war beendet. Jetzt sprachen die Schwerter und verteilten die Länder. Die Küste den Friesen, die Weser den Sachsen, die Seine den Franken, und Angelland Allen, die mutig und verzweifelt genug waren, es sich von den Briten zu nehmen.

 

50 Jahre später war die Gegend zwischen Elbe und Oder nahezu menschenleer. Nur vereinzelt lebten kleine Gemeinschaften in den Wäldern und Sümpfen. Sie waren arm und hatten niemandem etwas zu bieten, nichtmal den marodierenden Dänen, die manchmal das Wenige plünderten, was zu plündern war, die aber nicht daran dachten, sich in diesem Land niederzulassen.

 

 

1

 

Jaan lebte hauptsächlich von den Fischen, die er sich aus dem Bach holte. Er aß morgens einen und abends einen, und wenn er Lust hatte, zwischendurch auch noch mal einen. Tagsüber machte er Holz.Der Winter war lang und kalt, das war er immer, und man konnte nie genug Holz sammeln. Mit einer richtigen Axt wäre das vielleicht gar nicht so schwierig gewesen, aber das einzige Metall, das Jaan besaß, war eine Hälfte eines alten Schwertes, das er in einen klobigen Holzkoben steckte, und statt eines gezielten Axthiebes brauchte er nun mehrer geschickt gezielte, nervenaufreibende Versuche, aber so was das Leben nunmal, wo sollte Er auch eine Axt herbekommen?

 

Das machte das Leben beschwerlich, und die Geeda, die er lieb gehabt hatte, und von der er dachte, sie würde Ihn auch lieb haben, die war dann doch lieber nach Westen gegangen, wie es eigentlich alle taten. Jaan blieb auch nur aus reinem Trotz. Er war es zufrieden, in Armut hier zu leben,konnte er hier nur friedlich leben, und er wünschte sich natürlich eine Frau, aber seitdem war keine mehr bei ihm geblieben, und er hatte ihnen auch nichts zu bieten, als ein mageres Bett und Fisch jeden Tag, und vielleicht genug Holz im Winter, aber vielleicht auch nicht, wer weiß, wann der Frühling tatsächlich naht?

Außerdem aß er ja nicht nur Fisch. Den ganzen Tag aß er irgendwelche Früchte, und Blätter und Gräser, sammelte sich Bucheckern, oder wonach ihm gerade war, man mußte nicht hungern, und deshalb war es so merkwürdig, dass er doch trotzdem immer als arm galt. Was konnte man vom Leben denn noch erhoffen, außer satt zu sein? Und so blieb Jaan an seinem Fluß, angelte sich seinen Aal, und hoffte, das er bei einem der Feste unten am langen See zur Sommerwende jemanden treffen würde, der mit ihm das ganze Jahr auf seiner einen Tagesmarsch von jedem Anderen entfernten Ranch Fische fangen und Holz machen wolle. „Warum suchst Du Dir nicht ein Plätzchen weiter vor?“ „Ne, lass mol, da tu ick mich wohlfühlen. Ein herrliches Fleckhen Erde.“

 

Jaan mied nicht die anderen Menschen, er hatte einfach nichts mit ihnen zu tun. Seine Eltern hatten ihn schon hier aufgezogen, aber die kalten Winter zogen in die Knochen, und erst war seine Mutter gestorben, dann sein Vater, und seine Geschwister, das waren dann auch nur zwei, die wirklich groß geworden sind, die waren fortgegangen. So lebte er alleine, und die nächsten Nachbarn wohnten unten am langen See. Das waren drei Männer und zwei Frauen mit ihren Kindern, insgesamt 11 Menschen, und die junge Ida wäre natürlich eine schöne Frau für ihn, aber er wusste auch, daß sie nicht zu ihm ziehen würde, sie würde auf dem Sommerfest einen jungen Mann kennenlernen, der versprach, sie in den Westen mitzunehmen, wo die Länder fruchtbarer waren, wo es mehr Menschen gab, wo die Sachsen Festungen hatten und Leute gebraucht wurden.

 

Zum Fest gingen sie zwei Tage, er hatte Idas Familie abgeholt und dann gingen sie zum Festplatz, immer am See entlang, Hügel rauf, Hügel runter. Oft genug mussten sie den alten Trampelpfad von Buschwerk und umgestürzten Bäumen befreien, das tat sonst ja auch keiner, und als sie kamen, brannte schon ein großes Feuer, und fast jeder aus der Gegend war da, aus den sandigen Wäldern im Süden waren drei Sippen gekommen, dazu die ganzen vereinzelten Familien, die irgendwo in den Wäldern sich ihr Auskommen der Natur abklaubten, und Jaan konnte zehnmal beide Hände abzählen, so viele Leute waren da.

Insbesonders freute er sich natürlich auf seine Freundin Heda. Sie hatten bislang jedes Jahr genutzt, um sich in einem langen Spaziergang zu absentieren. Heda würde ihre Familie nicht verlassen, aber sie mochte Jaan und während der Feier war alles erlaubt, man huldigte Freya, der Liebesgöttin, und jeder tat, wie es ihm nach dem Sinn war. Aber Heda war nicht nach feiern zumute. „Die Nane ist Deine Tochter, und das sieht man ihr an. Und nun ist Merwold eifersüchtig, und ich fürchte er schlägt sie, und wenn das so weitergeht, vergewaltigt er sie auch. Du mußt sie mit zu Dir nehmen.“

„Ich lebe ganz allein, das wird ihr nicht gefallen.“ - „Ich weiß. Aber ich kann sie nicht behalten. Das gibt ein Unglück.“ „Und sie ist meine Tochter?“ „Das weiß ich ganz genau, sie ist dir aus dem Gesicht geschnitten.“ „Dann kann ich gar nicht nein sagen.“ „Nein, kannst du nicht.“ „Und wie soll ich mich von ihr fernhalten, wenn wir zu zeit in der Einsamkeint leben. Es ist nicht gut, wenn ein Vater mit seiner Tochter...“ „Das stimmt, also tu es nicht.“ „Das ist leichter gesagt als getan.“

„Besser du liebst sie, als das Merwold sie vergewaltigt.“

Und so war es beschlossene Sache. Sie mussten die ganze Geschichte heimlich einfädeln, an Merwold vorbei, aber das gelang auch ganz gut, immerhin war Nane verständig und selber froh, aus dem Einfluss Merwolds herauszukommen.

So lebten sie zwei Jahre in der Einsamkeit, und Nane formte sich zu einer Frau aus. Jaan ertrug es bald nicht mehr, wenn sie abends zusammengekuschelt auf ihrem Lager lagen, seine Begierde bei sich zu behalten, und an manchen Tagen schliefen sie miteinander, Vater und Tochter, und bald hörten sie auf, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Nur achtete Nane darauf, die Kräuter zu nehmen, so wie es sie ihre Mutetr gelehrt hatte. Als sie aber doch schwanger war, ging Jaan mit ihr zu der Sippe am langen See, und bat dort um Aufnahme. Es war sicherer, wenn eine Frau andere Frauen um sich hatte, wenn sie ein Kind bekam, und das sahen alle ein. Jaan zog es aber zu seiner Ranch zurück, und er ging jetzt oft hin und her, und sah, daß Nane hier Freunde fand unter den Kindern der anderen, und vielleicht war der junge Matze, obwohl noch zu jung, vielleicht schon bald alt genug, um mit Nane zusammen ein Leben zu führen, und das wäre eine für alle gute Lösung. Die Zeit würde es zeigen.

 

Nanes Kind lebte nicht, aber Matze erwies sich als treuer Freund, und das nächste Kind lebte und die beiden beschlossen, sehr zu Jaans Freude, im Land zu bleiben. Sie fingen Fische, machten Holz, sammelten die reichlichen Früchte des Landes und hatten ein armes, aber gutes Leben. Und als Jaan älter wurde, gab er seine Hütte am Aalbach auf und zog mit in die kleine Siedlung am langen See.

Auch eine andere junge Familie hatte sich hier gefunden. Ida war, wie alle es erwarteten fortgegangen mit einem vielversprechenden jungen Mann, aber im nächsten Sommer war sie wieder da, verhärmter, ohne ihr fröhliches Lachen, aber mit einem anderen Mann mit einem steifen linken Arm, den sie vorstellte und trotz seiner offensichtlichen Nutzlosigkeit bestand sie darauf, daß der nun hier mit ihr leben sollte. Sie erzählten Geschichten von den Kriegen, die überall im Westen tobten, und das es verrückt sei, dorthin zu gehen, und hier hätten sie es viel besser getroffen, aber die Jungen wollten nur die Kriegsgeschichten hören und dachten, das wäre die Möglichkeit, sich zu beweisen, denn hierzulande lebten immer noch so wenige Leute, daß man keine funktionierenden Handelsnetze aufbauen konnte und jeder nur so für sich leben musste.

 

2

 

In der kleinen Siedlung, die sie nun „Dorf“ nannten, näher mußte ihr Wohnort nicht bezeichnet werden, denn es gab kein anderes Dorf in irgendeiner erreichbaren Entfernung, nur den Thingplatz am Südufer des langen Sees, und vereinzelte Gehöfte, in denen einzelne Menschen von Fischfang und Sammelfang lebten. Es war ein fast schon steinzeitliches Leben, wenn sie auch Kleidung trugen, einige Keramikgefäße hatten und sogar vereinzelte Bruchstücke eines Sax als Messer oder Axt benutzen konnten. Man betrieb auch eine kleine Landwirtschaft, hegte Rüben und Wurzeln, pflegte manche Obstbäume, was man halt als einzelner Mensch ohne gutes Werkzeug schaffen konnte.

 

Und dann kamen die Slawen. Jaan hatte immer gedacht, früher oder später müßten doch auch die Saxen mal darauf kommen, daß das Land hier zu besiedeln war, daß es Nahrung für Familien bot, aber das war nicht passiert. Stattdessen kamen die Slawen. Sie kamen in kleinen Gruppen, vereinzelte Reiter zunächst, dann wehrhafte Männer, schließlich ganze Familien mit Sippe und Wagen, mit Vieh und Habseligkeiten, die Zelte aufbauten und dann Hütten daraus bauten.

Die Slawen waren nicht feindselig. Das Land war weit und leer, und die vereinzelten Bauern ließen sie in Ruhe. Das Land aber nahmen sie in Besitz. Das alles war nur eine Frage von Wochen gewesen, im Frühling waren sie gekommen, und nun war noch nicht Sommer, es kamen immer weitere Nachzügler, und als das Sonnenwendfest näher rückte, füllten sich die Hütten in dem Dorf, denn viele der vereinzelten germanischen Ursiedler trauten dem Frieden nicht und waren geflohen und besprachen sich in den engen Hütten, wie sie mit dieser Invasion umgehen sollten. Einige wollten fliehen, und einige waren auch schon geflohen, andere wollten kämpfen, obwohl das natürlich vollkommen aussichtslos war, angesichts der Anzahl der Neuankömmlinge. Aber wenn es gelänge, Hilfe von den Säxischen Herden zu bekommen, denn sie müßten doch auch ein Interesse daran haben, das Hinterland nicht zu verlieren, dabei wußte Jeder, daß die Saxen andere Fronten hatten. Sie kamen nicht in Frieden und nicht in Krieg, sie schickten allenfalls diejenigen ostwärts, die sich aus irgendeinem Grund unmöglich gemacht hatten und ausgewiesen wurden. Und das waren auch die, die fürs Kämpfen plädierten, denn sie wollten nicht in die Arme ihrer Feinde fliehen.

Fliehen oder Kämpfen also, so wogten die Diskussionen hin und her, und nur langsam wurde klar, daß es eine schweigende Mehrheit gab, die weder das eine noch das andere wollte, sondern die auf einen Weg hofften, zu bleiben und sich zu arrangieren. Jaan ergriff schließlich das Wort für diese Möglichkeit, und wurde scharf von Merwold angegriffen, der aus dem Süden gekommen war und ihm, vor allem auch aus persönlicher Animosität, Feigheit vorwarf. Ida gelang es aber, den Streit zu schlichten, ehe er böse wurde, und überhaupt waren es die Frauen, die dann beschlossen, was zu tun sei. Erstmal würde man eine Abordnung zu den Slawen schicken und versuchen zu reden. „Sie werden Euch alle abschlachten, diese Barbaren“ rief Merwold dazwischen, aber schwieg dann, weil das, bei allen Möglichkeiten, sowieso zu tun war. Man wußte zwar nicht, ob die Slawen Gastfreundschaft kannten und pflegten, aber die Wahrscheinlichkeit, von so einem Treffen lebend wieder zurück zu kommen, schien doch recht hoch, angesichts der Tatsache, daß sie alle sich frei in dem Gebiet bewegen konnten, auch wenn man sich aus dem Weg ging.

Und so wurde eine Abordnung gewählt. Jaan und Matze gingen mit Ida und Lianna, einer Frau aus den östlichen Wäldern, die geflohen war, und behauptete, schon einmal mit einem Slawen gesprochen zu haben. Man glaubte ihr nicht wirklich, weil sie sagte, es sei unmöglich mit den Slawen zu reden, die ganz andere Wörter benutzten, und man könne sich nicht verständigen, aber immerhin hatte sie es schonmal versucht, und damit war sie die mit Abstand kompetenteste Person von allen.

Und so gingen sie los, dorthin wo sie das Herdenlager der Slawen vermuteten, irgendwo in der Nähe des verwaisten Thingplatzes, den sie für ihr Sommerfest heuer kaum würden nutzen können. Sie brauchten drei Tage für die Wanderung, weil sie sich nicht trauten, einzelnen Slawen sich zu zeigen und anzuvertrauen, sie wollten ja am Besten mit den Anführern reden, und so versteckten sie sich oft und zweifelten an sich und ihrem Auftrag, aber am Mittag des dritten Tages sahen sie die schon befestigte Anlage vor sich und trauten sich, heranzukommen, denn nachdem sie einmal auch gesehen worden waren, wäre ein Rückzug eh nicht mehr möglich gewesen.

 

 

3

 

Sie verstanden kein Wort von dem, was geredet wurde, aber im Slawenlager herrschte gute Stimmung, und sie wurden mit einem Bier bewirtet, daß sie so nicht kannten. Honigwein hatte Matze schonmal kosten dürfen, aber im Dorf gab es so etwas nicht, alles was sie hatten, waren vergorene Früchte, an denen sie sich berauschen konnten, aber eigentlich gab es dafür auch effektivere Pilze und Kräutermischungen, die jede Frau zu mischen verstand, so war das Bier, das bei den Slawen ausgeschenkt wurde, für sie eine Offenbarung an Geschmack und Rausch, und noch bevor irgendetwas hätte geklärt werden können, lagen die vier Gesandten schon unter dem Gelächter der Slawen besinnungslos am Boden. Immerhin hatte es ihrem Anführer gefallen, die Besucher zu empfangen und mit ihnen anzustoßen, und welche Wirkung ihr Bier auf ungewohnte Zungen hatte, das wussten sie bereits. Sie waren lange unterwegs gewesen auf der Suche nach neuem Land, fast ein Jahrzehnt, seit sie ihre übervölkerten Landstriche irgendwo nahe des Weichselquellgebietes verlassen mussten, und wo sie auch hinkamen, konnten sie ihre Schwerter verdingen, um gelitten zu sein, mussten aber weiterziehen, wollten sie leben. Damals war noch nicht das ganze Land besiedelt, so wie heute, überall gab es leere und unbewohnte Gegenden, aber immer auch eifersüchtig darüber wachende Nachbarn, und die friedliebenden Slawen wollten lieber in Ruhe leben, als sich in Kriegen zu verausgaben und suchten weiter, bis sie nach Mecklenburg kamen. Hier hatten sie etwas gefunden. Allerdings war natürlich die Frage, wie sich die Einheimischen verhalten würden, und um diese Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen, gab es auch unter den Slawen die starke Fraktion derer, die davon ausgingen, das tote Feinde keine Schwierigkeiten machen konnten. Allein, Prinz Redar, Sohn des großen Heerführers der Obodriten, Obodr, hatte eine andere Vorstellung vom Leben. Er verabscheute Gewalt in einem Maße, das man ihn schon der Feigheit zieh, aber das machte ihm nichts aus. Er hatte seinen Kriegern ausdrücklich verboten, die ansässige Bevölkerung zu massakrieren, weil, wie er sagte, die Götter zwar Wein, Weib und Gesang liebten, nicht aber das Blut unschuldiger Menschen. Er wollte ein gesegnetes Leben für sein Volk – das es das Volk seines Vaters war störte ihn insofern nicht, als der einem anderen Heerhaufen vorstand und Redar seinen Teil selbständig befehlen konnte – und gesegnet und gottgefällig, davon war er überzeugt, war eine Landnahme in Einvernehmen mit dem Land und seinen Bewohnern. Seine Krieger und auch der sich Priester nennende Schamane waren anderer Meinung, er aber war verliebt in seine Odda, die ihm diese Ideen eingegeben hatte, und die er als die seinen ausgab, um nicht als ein Mann zu gelten, der seiner Frau hörig war, aber natürlich galt er als genau das, und vor einer Meuterei seiner blutrünstigeren Kumpane schützte ihn nur der drohende Zorn des Vaters. Aber wiederum, auch die Krieger in ihrem Tatendrang hatten Frauen und Kinder weiter hinten im Gefolge, und diese Frauen plädierten auch für ein friedliches Vorgehen, und dann waren die Slawen zwar aufbrausend, aber auch leicht wieder zu beruhigen, und mit einem Bier in der Hand und einer Frau an der Seite brauchten sie nicht noch anderes, um glücklich zu sein. Und so waren sie es zufrieden, die ungewohnten Trinker auszulachen, wie sie unerfahren über den Platz torkelten. Redar hatte aber gleich nach dem Gelehrten geschickt, denn eine weitreisende Truppe besaß so einen in ihren Reihen, und das war in diesem Fall ein Gepide, der vor den vorrückenden Awaren nach Norden geflohen war, und allerhand wundersames zu berichten wusste, von fremden Völkern und einem Gott, der angeblich allmächtig war, dem das Reich Roms aber unter den Händen zerfallen war, nachdem er es einmal besessen hatte, jedenfalls erzählte er das so, und dieser Gepide hatte schon einige gute Dienste geleistet, da er mit fremden Zungen vertraut war und wusste, wie Byzantiner redeten und Langobarden und die verschiedensten Goten. Er war auf dem Weg ins berüchtigte Frankenland gewesen, als er slawische Krieger kennenlernte und anfing, sich für ihre Sprache zu interessieren. Und so reiste er weiter in den Norden, nach Osteuropa, statt nach Westen, und traf auf slawische Stämme, in denen der Bevölkerungsdruck hoch war, und die junge Menschen losschickten, sich neues Land zu erobern. Und so war er zu den Obodriten gekommen, mit denen er nun schon drei Jahre herumzog, und er verspürte wenig Neigung, sie zu verlassen, wie es seine Lehrer gefordert hätten, denn er sollte nach Hause zurückkehren und seine Erfahrungen berichten, oder weiterziehen und neue Völker kennenlernen, um später zu berichten, so blieb er aber bei den Slawen und war schon emotional verstrickt, denn seine Freundin hatte einen süßen Sohn geboren, der ihm ganz aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien. Nun aber hatte er eine Aufgabe, und das war, mit den Eingeborenen dieses nördlichen Sumpflandes zu verhandeln, und dabei auch zu erfahren, wer sie seien.

 

 

 

4

 

Es dauerte bis zum nächsten Tag, ehe er im Heerzentrum war, denn wie es sich so ergeben hatte, war er und seine Familie unter den Nachzüglern, denn wo sie auch hinkamen, war er ja derjenige, der die Leute , die sie trafen, immer nochmal auf einen Krug Bier einlud, um in Erfahrung zu bringen, was sie über ihren Stamm und die Nachbarn wüssten, auch wenn das fast immer erschreckend wenig war. Die Slawen waren an Geschichtsschreibung so wenig interessiert wie die, Goteneinen Schriftkundigen hatte er seit seinem Ausbruch nach Norden nicht mehr gesehen, und er bezweifelte, das es ihm jemals würde gelingen, einen Überblick über all die fremdartigen Stämme und Völker zu bekommen, die im weiten wilden Land Osteuropas wohnten, aber er hörte nicht auf, zu versuchen, nicht ohne eine gewisse ironische Leichtigkeit angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit seiner selbstgesteckten Aufgabe. Und in der Tat war es wichtiger, daß die Hütte, die sie sich bauten, den Regen abhielt, und das das Feuer sauber brannte, und das Holz dafür da war, und Fisch und Früchte, denn was er für seine Arbeit hielt, das Forschen, das waren für die Anderen nur müßoge Beschäftigungen, mit denen er sich von ehrlicher Arbeit fernhielt. Aber immerhin, wenn er gebraucht wurde, dann wurde er auch geholt, und so traf er jetzt auf diese Nachfahren nordgotischer Daheimgebliebener, und suchte nach Worten, die sie verstanden.

 

Es gab einen, mit dem er reden konnte, das war der mit dem steifen Arm, der sich Matze nannte. Er hatte mit Saxen gegen Franken gekämpft, war verwundet worden und vor dem sicheren Tod durch die Zuwendung von Ida gerettet worden, und Säxisch, das war eine Art breites gotisch, Bauerngotisch, wie er es bei sich nannte, weil die Saxen, eben nicht wie die Goten, denen er begegnet war, in den Ruinen des Imperium Romanums nach eroberbaren Ländern suchten und dort zwangsläufig mit Kulturvölkern in Kontakt kamen, und sich so weiterentwickelten, weil diese Saxen also noch ganz unbeleckt vom Kontakt mit den großen Zivilisationen waren und auf ihrer Eigenart bestanden. Säxisch war also eine Art ungehobeltes Gotisch, aber das was die beiden Frauen und der andere Mann sprachen, war gar nicht zu verstehen. Nur der Matze konnte reden, und das taten sie, dabei gab es wieder Bier, das die Zungen lockerte, und die beiden kamen recht schnell darin überein, das es das Beste wäre, wenn alle sich gegenseitig in Ruhe lassen würden und in Frieden miteinander leben würden, nur das das so schwierig sei, weil man sich mißtraue, und genau derjenige, mit dem man heute einen Friedensvertrag mache, könne morgen kommen und einem das Meser in den Rücken stechen, weshalb es sicherer ist, alle Fremden zu töten oder zu versklaven und wegzuschicken. Es sei ja also nicht persönlich gemeint, wenn man das Dorf überfällt, die Männer tötet, die Frauen vergewaltigt und die Kinder versklavt, es sei nur das Vernünftigste, solange es keinen besseren Plan gibt. Was also wäre der bessere Plan?

Matze beriet sich mit Jaan und Ida, während Lianne auf mit Redar selber trank und ihm schöne Augen machte. Jaan wußte nicht, ob das klug war oder ein Schritt ins Verderben, aber sie hatten hier nichts zu verlieren außer ihr Leben, ihre Heimat und ihre Zukunft, und die Dinge liefen so, wie sie waren. Ida folgte dem Gespräch der beiden Männer mit zunehmenden Verständnis, war sie doch die etwas seltsame Sprache ihres Mannes gewohnt, und sie stellte ihm schließlich die Alternativen vor, so wie sie für sie lagen. Sie würden sich nicht in die Sklaverei ergeben, aber sie würden sich auch nicht in einer offenen Feldschlacht abschlachten lassen. Sie kannten das Land, und das war weit und groß und bot viele Verstecke, und die Slawen wären nie sicher vor Überfällen und nächtlichen Meucheleien, wenn sie sich die Leute vom Dorf zu Feinden machten. „Wir können Euch nicht besiegen, aber wir werden viele von Euch töten, bis ihr uns alle habt, und das ist die Variante, die ihr nicht wollt. Aber die Variante, die ihr wollt, ist die, ihr lasst uns in Ruhe, wir lassen Euch in Ruhe. Ihr seid hier willkommen, wir sind zu wenige. Eure Oberherrschaft kennen wir an.“

 

So wurde das Tal des langen Sees befriedet, ohne das auch nur einer dabei zu Schaden kam, und einmal fiel ein Wort, das diesen Zustand beschrieb: Man duldete den anderen, und das war ein Wort das Slawen wie Saxen verstanden, denn was die einen duldeten tolten die Anderen, und so heißt der See bis zum heutigen Tag Tollense See, weil sich die beiden Stämme duldeten.

Nur eine Bedingung gab es, die die Slawen gerne erfüllten: Der Thing Platz sollte zum Heiligtum werden, damit auch weiterhin hier die Sommernacht gefeiert werden konnte. Und so entstand Rethra.

 

 

5

 

Historische Wahrheiten sucht man in solchen Geschichten vorwiegend vergeblich. Ja, die Slawen besiedelten im 7. Jahrhundert Mecklenburg, ein Land, das seltsamerweise weitgehend verlassen war, obwohl andernorts erbittert um Länder gekämpft wurde, und es drängt sich die Frage auf, warum die Saxen so viel daran setzten, in Britanien Fuss zu fassen, anstatt kampflos den ostelbischen Raum in Besitz zu nehmen. Dann gab es Völker wie Langobarden, Gepiden, Awaren, Sueben , Goten, Hunnen, und der erfahrene Historiker kann sie unterscheiden anhand der Art ihrer Grabbeilagen, Waffen, Keramiken, aber was tatsächlich passiert ist, wie welche Kriege ausgefochten wurden und was das für die Bevölkerungen bedeutete, lässt sich kaum abschätzen. Wir können uns ein Bild malen, und je genauer man Details rekonstruiert, desto genauer wird auch die Vorstellung, die wir uns machen können, aber das Dunkel der Geschichte gibt nur unwillig seine Geheimnisse preis, und die Lücken zu füllen ist immer ein Werk der Phantasie. Dabei sind meine genauen historischen Detailkenntnisse aus dieser Epoche mehr als dürftig. Ich kann mir kaum die Namen der Stämme merken, die auf Karten und in Texten verzeichnet sind, ich verbinde nur lose Fäden aus imaginierten Zusammenhängen, ich erkläre mir die Welt mit dem wenigen, das mir als Mittel zur Verfügung steht. Mein Fundus besteht aus Neugierde, nichts aus Forschung. Nirgendwo merke ich mit Zahlen und Fakten, immer nur erinnere ich Erlebnisse, Erzählungen, Geschichten, die gewesen sein können.536 bildet so auch den äußeren Rand der Zeitspanne, in den König Artus der Briten hereinregiert haben könnte, ein Mann, von dem wir Geschichten kennen, aber keine historischen Genauigkeiten. Was ist dran an solchen Geschichten, die es gegeben hat oder nicht gegeben hat? Es ist immer die Hoffnung, eine innere Wahrheit auszusprechen, eine Geschichte besteht nicht aus den Fakten, sie versteckt sich hinter den Fakten, unter den Fakten hindurch, und sie erzählt nicht das, was sie zu erzählen scheint, sondern eine einfache, tiefe Wahrheit, die augenscheinlich ist für den, der sie sieht. Das Problem an den Worten ist dabei, das sie eine einfache, tiefe Wahrheit nicht du fassen vermögen. Worte sind immer zuviele und immer zu schnell, und sie können die Wahrheit nicht aussprechen, sondern immer nur um sie kreisen, sich an Geschichten oder Fakten haltend, an irgendeinem Konstrukt, das geeignet sei, die Wahrheit zu umschreiben. König Artus der Briten, Prinz Redar von der Tollense, Chlodwig der Franke. Die Gewinner stehen schon in den Startlöchern. Die Christen schreiben und organisieren, und das ist alles, was nötig ist, um die Welt zu unterjochen. Das Imperium ist tot, es lebe das Imperium! Siege, die damals geschlagen wurden, zählen noch heute, das Europa der katholischen Christen entsteht und macht sich die Welt untertan. Denn am Beginn aller Wirren der Geschichte, die mit dem Zerfall des Romam Imperium begann, steht die Entschlossenheit der Christen, und am Ende gewannen immer sie. Tausend lange Jahre lang. Dann kam die Reformation. Und mit ihr der dreißigjährige Krieg, dessen Schlachten wir heute noch schlagen, weniger blutig, aber als Ahnherr der Einstellungen, der Bedingtheiten. Das Christentum versteht man daher vielleicht besser, wenn man es als: „Die Organisation“ bezeichnet. Die Organisation ist nicht vom Erfolg einzelner Mitglieder abhängig, sie überdauert den Einzelnen und schafft so die Basis für eine dauerhafte Struktur.. Die Organisation schützt das eigene Gebiet vor dem Einfluss konkurrierender Mächte und versucht zu expandieren. Die Organisation toleriert keine konkurrierenden Organisationen.

 

Die Organisation eroberte sich in den nächsten 500 Jahren ganz West- und Mitteleuropa, die Grenzen gesetzt nur von ihren unmittelbaren Konkurrenten, den orthodoxen Kirchen und dem Islam. Die Saxen verloren ihre Götter im 8. Jahrhundert an Karl den Großen („Der Große“ ist in der Geschichtsschreibung in aller Regel die Abkürzung für: „Der große Schlächter“), die Obodriten, als allerletzte vor den Isländern, im 12. Jahrhundert, als die deutsche Ostsiedlung begann. Noch bis ins 16. Jahrhundert sind in Mecklenburg Spuren des alten Glaubens nachweisbar, ehe die Hexenjäger auch im Kleinen schärfer wurden und jedes abweichende Denken mit dem Tode ahndeten.

Die Organisation zeigt nach Außen Stärke und ist absolut gnadenlos, aber sie hat auch ein Angebot an die Menschen, die ihr folgen, und hier zeigt sich auch eine Eigentümlichkeit der conditio humana: Gewalt und Stärke allein zwingen die Menschen nicht unter eine Herrschaft, das schafft erst eine in sich schlüssige Erzählung, an die die Menschen glauben können. Nur wer den Seelen der Menschen ein Angebot macht, darf hoffen, sie sich zu unterwerfen. Und weil das gelungen ist, war die Geschichte der Organisation ein solcher Erfolg.

 

 

6

 

Das ist zugleich das Mißverständnis, das entsteht, wenn heutige Menschen, davon überzeugt, mit ihrem scharfem Verstand alles erklären zu können, die Behauptungen der Kirche leichthin als unwahr abtun. Natürlich, man kann historisch belegt nachvollziehen, wann welche Behauptungen, und auch aus welchen Gründen, in die christliche Lehre aufgenommen wurden. Und dann stellt man fest, daß die Dreieinigkeitslehre nichts anderes ist als eine späte Verballhornisierung der Anrede „Vater“ von Christus an Gott, das das Papsttum aufgrund einer politischen Entscheidung des heidnischen Kaisers Konstantins, ebenso wie die konkrete Textfassung der Bibel, installiert wurden, daß die Heidenbekehrung unter Zwang durch Berufung auf die - man kann es nicht anders sagen - widersinnigen Ausführungen eines Augustinus legitimiert wurde, erst viel später kamen noch Zölibat und päpstliche Unfehlbarkeit hinzu, und so kann der moderne Beobachter zweifelsfrei feststellen, daß die Geschichte der Kirche eine Geschichte dreister Verdrehungen ist, und es ist einfach, mit Wut oder Verachtung auf diejenigen zu schauen, die immer noch den Lügen einer alten Zeit anhängen. Aber das hieße, die Organisation mit ihrer Lehre zu verwechseln. Die Organisation ist eine weltliche Macht, geschaffen, um Herrschaftsverhältnisse zu installieren und durchzusetzen. Die Lehre ist ein Angebot an die Seelen der Menschen, ihr Leben zu meistern und durch die Ordnung der Lehre einen Halt zu finden im Chaos der Welt.

Was passiert aber, wenn man die Macht der Kirche zerschmettert, ohne ein neues Angebot an die Seelen der Menschen bereitzustellen? Man landet im Chaos der modernen Welt, die keine gemeinsamen Werte kennt, kein gemeinsames Ziel des Handelns, keine Solidarität der Menschen untereinander und keinen Plan, den gefahren, die in einer globalisierten die Welt die Menschheit als Ganzes bedrohen, zu meistern. Manche kümmern sich selber um ihre Seele, suchen sich einen Sinn in den Angeboten der verächtlich „Lebenshilfeindustrie“ genannten Nachlassverwalter alten Glaubens und neuer Ideen, die in Wahrheit eine durchaus zukunftsträchtige Verschmelzung der Wahrheitslehren aller Traditionen darstellt, und wer es schafft, sich „seinen“ Sinn hier zu finden, der ist zunächst einmal gut aufgestellt. Auch die Alternative, mit dem Islam einen Glauben anzunehmen, der keinen moderen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht, ist offenkundig attraktiv, oder als Traditionalist eben auf der alten Kirche zu beharren. Was ist aber mit denen, die es nicht vermögen, einen dieser Wege zu gehen?

Zunächst mal gibt es noch sekundäre Systeme, die ein Stück weit tragen. Die Gedanken von Humanität, Menschenrechten und Demokratie wagen sich zwar nicht in die jenseitige Sehnsucht der Seele vor, versprechen aber im Diesseits einen gewissen Sinn, der in der Fortentwicklung des Menschseins, beflügelt von einem erträglichen Erdendasein, durchaus in der Lage dazu ist, ein Leben zu stabilisieren und erträglich zu halten, und um etwas anders geht es ja nicht. Wenn es sich dann aber zeigt, daß die Demokratie daran scheitert, daß mächtige Interessengruppen die Parteien in ihrer Hand halten und Entscheidungen im Sinne des Volkes zu verhindern wissen, das die Sicherheit des Rechts und des Gesetzes vor allem für die gelten, die sich ihre Durchsetzung auch leisten können, und dem einfachen Menschen nichts bleibt als die Humanität seinen Mitmenschen gegenüber, dann wird aus dem breiten gangbaren Pfad ein sehr schmaler, zwischen der Rückbesinnung auf die religiösen Vorstellungen, die dem Humanismus ja zugrundeliegen, und dem Abgleiten in das tertiäre Glaubenssystem, und das ist das Geld. Der Glaube an das Geld hält uns alle zusammen. Aber Geld macht nicht glücklich, und kein Mensch, der an das Geld alleine glaubt, kann hoffen, jemals Zufriedenheit zu erlangen.

 

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So sind wir heutige Menschen in eine Falle geraten: Wir haben im Brustton der Überzeugung uns von den alten Fesseln befreit, und stehen jetzt da ohne diese Fesseln und merken, das wir sie gebraucht haben. Das sie eine Funktion hatten, die wir ohne sie nicht zu erfüllen wissen. Ein Haustier hat nichts davon, in die Freiheit entlassen zu werden: Auf sich gestellt, überlebt es in freier Wildbahn nicht lange. Die Abschaffung der Sklaverei ist für den Sklavenhalter eine Unannehmlichkeit, für den Sklaven selber ist sie eine Katastrophe: Vorbei die sichere Zukunft, vorbei die Gewissheit, im nächsten Jahr zur selben Zeit dasselbe Essen haben zu werden. Stattdessen als Freiheit eine Vogelfreiheit, geworfen in das Mahlwerk des Turbokapitalismus, wo nur die Stärksten sich durchzusetzen vermögen, und die große Mehrheit zufrieden sein muss mit den Krumen, die vom Kuchen auf den Boden fallen.

Wir haben eine Demokratie errichtet auf falschen Grundannahmen: Ausgehend von der Überzeugung, das jeder Mensch ein Recht auf Glück habe, sind wir, als freiheitsliebende Menschen der Oberschicht, zu dem Trugschluss gekommen, daß jeder Mensch, um glücklich zu sein, frei sein müsse. Aber das ist ein Irrtum. „Freiheit“ ist ein Kampfbegriff, dessen Inhalt wir noch nie richtig erfasst haben. Frei sein heißt auch, bindungslos zu sein, bindungslos zu sein heißt, alleine zu sein, alleine zu sein heißt, beherrschbar zu sein. Ein freier Mensch ist nicht frei, allenfalls frei dazu, seine nächste Abhängigkeit zu bestimmen.

Deswegen ist mit „Freiheit“ meist auch gar nicht Freiheit gemeint, sondern einfach die Existenz von bestimmten Entfaltungsmöglichkeiten. „Selbstbestimmte Teilhabe“ wäre eine im modernen Bürokratendeutsch gehaltene Umschreibung dafür. Freiheit heißt, zu wählen, in welchem Verein ich mich engagiere, und am Sonntag ausschlafen zu können. Sicher, Menschen sind verschieden, und der eine braucht mehr davon und der andere weniger, aber uns allen gemeinsam ist, das wir soziale Wesen sind, und uns nur durch unsere Beziehung zu unseren Mitmenschen definieren, und wie diese Beziehungen auch aussehen mögen, wir sind von ihnen abhängig und damit nicht frei.

Und ein abhängiger Mensch wählt natürlich - um bei der Demokratie zu bleiben - nicht das objektiv beste, weder für ihn noch für das Ganze, sondern er wählt die, von denen er abhängig ist. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!“, das ist das ganze Geheimnis hinter den ansonsten erratischen Entscheidungen des Volkes. Es ist derselbe mechanismus, der dafür sorgt, daß wenn zwei Armeen gegeneinander marschieren und sich auf dem Schlachtfeld treffen, daß sie dort anfangen zu kämpfen, anstatt die Waffen wegzulegen, Schach zu spielen und sich über ihre Kinder zu unterhalten. Menschen sind loyal, weil sie abhängig sind, und weil sie loyal sind, sind sie manipulierbar, und die Freiheit ist eine unbestimmte Sehnsucht in den Seelen der Menschen, aber einen wirklich freien Menschen, davon gibt es unter zehntausenden vielleicht einen.

 

Warum aber sehnen wir uns nach Freiheit, wenn sie doch so gar nicht in unserer dna verankert ist? Wir können Freiheit weder leben noch denken, und doch gilt ihr unser Streben, warum?

Wir werden keine Antwort auf diese Frage finden, solange wir den Menschen als Körper mit Geist vorstellen. Der Körper kann nicht frei sein, der Geist würde wissen, daß er die Freiheit nicht braucht, im Gegenteil der Geist, dessen Element die Freiheit ist, sucht sich Abhängigkeiten, um in der Welt bestehen zu können, er konstruiert sich wider besseren Wissens Gewissheiten, nur um nicht in seiner isolierten Freiheit zu bleiben, er katalogisiert und ordnet die Welt, nur um ihrer Freiheit nicht zu begegnen, denn nur in der Abhängigkeit von den Dingen schafft sich der Geist die Reibung die er braucht, um zu existieren. Ein freier Geist würde gar nicht denken, und das ist die Freiheit, nach der der Zenmeditierende sucht.

Die Sehnsucht nach der Freiheit aber kommt aus der Seele, und sprechen wir von der Seele, dann sprechen wir nicht mehr von den Dingen, die sich mit Natur- oder Geisteswissenschaften klären lassen, wir betreten den Bereich des Religiösen. Moderne Naturwissenschaftler versteigen sich ja sogar schon zu der Behauptung, es gäbe überhaupt keine Seele, da sie nirgends auffindbar sei, eine Behauptung, die mit naturwissenschaftlichen Methoden kaum zu widerlegen ist. Wem die Naturwissenschaft zur Welterklärung genügt, der braucht sich vielleicht wirklich über das Konzept der Seele keine Gedanken zu machen, allerdings wird er dann auch keine Antworten auf die Frage finden, warum er sich z.B. manchmal unglücklich fühlt, obwohl er doch alles hat (Frau, Kinder, Haus, Auto, Urlaub), und dieses Gefühl des Unglücklichseins solange verdrängen, bis eine Krankheit (obwohl er doch immer so gut für sich gesorgt hat, mit Sport, Ernährung, Abstinenz, Schlaf) als unerwarteter Schicksalsschlag sich in sein Leben drängt. Oder er wird (wahrscheinlicher) das tun, was ihm beliebt, schwierigen Beziehungen aus dem Weg gehen, hedonistisch leben, und sich einreden, das er eine wirklich feste Beziehung nicht vermisst. Möglicherweise wird er auch Dinge getan haben, die er guten gewissens nicht verantworten kann, die er für sein materielles Fortkommen aber tun musste, und nun meldet sich die verdrängte Stimme seines Gewissens in Alpträumen oder unerklärlicher Unruhe, die er nur mit vermehrter Aktivität zum Schweigen bringen kann. Möglicherweise aber auch, das muß man ehrlich zugeben, sind die Menschen, die nicht an eine Seele glauben, die Glücklichen, die es schaffen, ohne weitere Gedanken und Selbstzweifel nur ihr eigenes Leben zu leben und zu genießen und nie einen Gedanken daran verschwenden, daß sie irgendetwas verpasst haben könnten. Wer es schafft, sein Leben so zu leben, wer wollte ihm einen Vorwurf daraus machen? Aber sie, werter Leser, das kann ich ihnen versichern, gehören nicht zu dieser Gruppe, denn dann würden sie einen solchen Text nicht lesen. Sie glauben entweder an eine Seele, oder verbieten es sich, Sie stimmen zu oder lehnen ab, aber Sie interessieren sich für diese Dinge, Sie wandeln auf dem Pfad der Erkenntnis, und der paradiesische Urzustand des gedankenlosen Glücks ist Ihnen nicht beschieden.

 

 

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Die Seele also: Das Konzept der Seele ist so alt wie die Menschheit selber. Schon die Neandertaler gaben Ihren Toten Grabbeigaben mit auf den Weg, um ihnen den Weg in das Jenseits leichter zu machen. Für den Homo Sapiens gilt das nicht weniger. Menschen bestatten ihre Toten und offenbaren damit einen Glauben an eine jenseitige Welt. Ob dieser Glaube darin begründet liegt, daß es eine jenseitige Welt gibt, oder darin, daß der Mensch möchte, daß es eine jenseitige Welt gibt, ist letztendlich eine Frage, die aufgrund objektiver Kriterien nicht beantwortet werden kann, weil die Untersuchungsmittel eine vorher beschlossene Antwort voraussetzen. Es ist eine Frage des Glaubens. Tatsache ist, daß Menschen, und zwar schon seitdem wir sie als denkende Menschen bezeichnen können, das Jenseitige als Konzept in ihrem Denken hatten. So ist es auch zu erklären, daß die Menschen weltweit an eine ähnliche Seele glauben. Indianer, Aborigines, Schamanen, für sie alle ist die Welt beseelt, und die menschliche Seele etwas, das den Tod überdauert und in die Weltenseele wieder zurückfindet. Dieses Konzept ist also so universal, daß wir es vom Menschsein nicht lösen können. Der Mensch ist, ebenso wie er ein denkender Mensch ist, ein gläubiger Mensch, Ein Homo credens also. Insofern spielt es gar keine Rolle, ob der Glaube auf einer Wahrheit beruht oder auf einem Wunsch, er ist ein Teil der menschlichen Persönlichkeit.

Die Seele also, unabhängig davon, ob es sie gibt, erfüllt also in jedem Fall eine Funktion (womit die Frage nach ihrer Existenz beantwortet ist, denn nur etwas, das es gibt, kann eine Funktion erfüllen). Die Funktion der Seele ist die Einbettung der Gedanken in die Welt, oder anders ausgedrückt, die Seele verbindet Körper und Geist. Es ist ja ansonsten eine völlig unbeantwortbare Frage, wie aus den Reiz-Reaktionsschemen der Biologie, also aus elektronischen Nervenimpulsen, die einer unmittelbaren Kausalität folgen, Gedanken entstehen können. Zweifel und Phantasie, das Ich und die Sehnsucht, an welcher Stelle im Evolutionsprozess sollten diese Dinge aus den binären Entscheidungsprozessen eines Muskels involvieren können? Auch hier gilt: Vielleicht gibt es die Seele ja nicht, aber eine andere Erklärung für dieses Phänomen hat augenscheinlich noch niemand gefunden.

 

Lassen sie uns also nicht in Zweifel ziehen, was für nahezu alle Menschen, die bisher auf dieser Welt gelebt haben, eine Selbstverständlichkeit war: Das es eine Seele gibt. „Nahezu“. Es lässt sich nicht leugnen, daß es Menschen gibt, die die Existenz der Seele in Zweifel ziehen, und wahrscheinlich hat es sie auch schon immer gegeben. Vielleicht ist dies der Gegensatz zwischen Gut und Böse, zwischen denen, die für ihr eigenes materielles Fortkommen sorgen, und denen, die ihr seelisches Wohl, und damit letztlich das Wohl aller, im Blick haben. Mitgefühl, compassion, versus, Ellenbogen, survival of the fittest. Und wir fangen an zu sehen, daß im sozialen Gefüge der Menschen beides seinen Platz hat: Der Glaube an die Seele als Kitt, mit dem die Menschen sich umeinander sorgen, aber auch der rücksichtslose Ungläubige, der sich über die Regeln seiner Zeit hinwegzusetzen vermag um etwas Neues zu schaffen. Und erst, wenn wir auch dem Ungläubigen seine Funktion zugestehen, können wir anfangen zu verstehen, welchen Problemen die Menschheit und ihre Religionen heute gegenüberstehen. An der Masse der Ungläubigen Menschen ist nicht das Problem, daß diese Menschen ungläubig sind, sondern daß es eine Masse ist. Jede Gesellschaft braucht ihre Abweichler, und eine Gesellschaft, die abweichendes Denken, abweichende Lebensstile nicht zulässt, geht zurecht zugrunde. Die Kirche hatte solange funktioniert, solange sie nicht allzu genau definiert hatte, wofür sie denn steht. Eine Kirche, die einen Meister Eckhart oder eine Hildegard von Bingen zulässt, braucht einen Martin Luther nicht zu fürchten. Aber die Kirche, die Hexen verbrennt, verbrennt damit ihre Legitimität und zerbricht zurecht.

 

Aber haben wir damit etwas gewonnen, um auf die Ausgangsfrage zurückzukehren? Wir haben uns von der Kirche befreit, aber eine Welt der Ungläubigen geschaffen, voneinander isolierte Menschen, unfähig zur Solidarität, die jeder für sich nur den eigenen Vorteil im Blick haben und damit unfähig sind, eine Gesellschaft zu bauen, die das Wohl der Gesamtheit in ihren Entscheidungen berücksichtigt. Ausgeliefert sind wir den kapitalistischen Wölfen und eine eine neue religio ist erst noch zu kommen. Und insofern der freie Glaube des New Age für allzu viele noch eine Überforderung darstellt, gibt es nur einen Glauben, der bereitsteht, die Lücke zu füllen: Das ist der Islam.

 

 

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Der Islam. Den Islam gibt es nicht. Deswegen ist jede Aussage über ihn sinnlos. Natürlich gibt es viele Muslime, und es lassen sich Aussagen darüber treffen, woran sie glauben, aber welcher von ihnen wäre repräsentativ für die anderen? Der Islam ist dezentral organisiert, Muslim ist, wer vor drei anderen Muslims das Galubensbekenntnis spricht, kein Zentralregister, kein Papst, der definiert, woran zu glauben sei, allenfalls mehr oder weniger wichtige Männer in mehr oder weniger wichtigen Positionen, die ihre Meinung haben der man als Muslim folgen kann oder auch nicht. Soweit die friedliche Theorie, die in der Praxis natürlich konterkariert wird von absolutistischen Despoten, die nicht nur meinen, die ultimative Wahrheit zu kennen, sondern auch, sie ihrem Volk aufzwingen zu müssen. Dabei ist der faschistoide Islam, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts in immer mehr Ländern Staatsreligion wird, eine relativ moderne Erfindung. Burka und Niqab sind keine traditionellen Kleidungsformen islamischer Völker, sondern faschistische Uniformen, dessen Tragen nicht religiös, sondern politisch motiviert ist. Vom Geist des Islams sind diese modernen Verfechter in etwa so weit entfernt, wie die Inquisitoren des Mittelalters von Jesus Christus. Sie benutzten seinen namen, aber in Wahrheit sind sie seine Feinde. So kann man auch heute die islamistischen Hassprediger der Muslimbruderschaften, die Staatsführungen der Saudis, der Perser, der Indonesier, der Türken, die Taliban und die syrischen oder lybischen Freiheitskämpfer (so genannt, weil sie in einer kruden Allianz Zwecken der westlichen Führungseliten dienten), Gruppen wie Hisbollah, Isis und Al Qaida und nicht zuletzt die sogenannten Palästinenser der Hamas, nur in dem Sinne als Muslims bezeichnen, als das man ihre Eigenbezeichnung übernimmt, aber in Wahrheit sind sie Anhänger eines modernen Faschismus, der mit dem Islam in etwa so viel zu tun hat, wie der historische deutsche Nationalsozialismus mit dem alten germanischem Götterglauben, nämlich gar nichts, außer der Behauptung, sich darauf zu berufen.

Der Islam ist etwas ganz anderes. Er ist eine Religion des Friedens, der, beruhend auf wenigen Grundgedanken, Platz und Raum lässt für die Weisheitstraditionen verschiedenster Völker und Länder. Jesus und maria haben in ihm ebenso ihren Rang, wie die fernöstliche Weisheit vom Weg, der Buddhist kann in Allah das Nirvana erblicken, der Hinduist kann seine Götter als Engel behalten (allerdings nicht als Götter, da ist der Islam eigen, es gibt nur einen Gott, und der heißt Allah), der Schamane findet in Allah den Urgrund, dem alle Naturgeister unterstehen. Das zumindest ist der Islam, wie ich ihn als den Islam der Sufis und Derwische kennengelernt habe, und der auch den Naturwissenschaften, dem modernen Ersatzglauben des Westens, in keinem Punkt widerspricht. Insofern ist der Islam in der Tat geeignet, die Religion der Neuen Zeit zu sein und alle Menschen unter einem Grundgedanken zu einen, unter dem Grundgedanken, daß es einen Gott gibt, dem wir dienen und dem wir unser Leben schulden, und vor dem wir zu verantworten haben, wie wir es leben. Vor Gott, vor Allah haben wir es zu verantworten, vor keinem Menschen, denn das wäre Götzendienst. Aber das haben die modernen Islamfaschisten leider nicht verstanden, und ob der Islam unbeschadet aus dieser Umarmung hervorgehen kann, mag bezweifelt werden.

Zumal auch die Historie des Islams nicht unproblematsich ist. Mohammad war weder Heiliger, noch auch nur ein religiöser Mensch, er war ganz einfach ein Politiker, der das getan hat, was notwendig war, um sein Volk zu einen. Sein Koran ist, ich habe es schon beschrieben, ein in weiten Teilen veraltetes politisches Werk ohne Relevanz für uns heutige Menschen, und es ist wohl auch seine politische Leistung, die die Moslems bewundern, nicht seine menschliche Weisheit, denn mit der war es nicht weit her. Das Schlimme ist, das allein ein solcher Satz heute schon den Islamfaschisten Grund genug ist, zu töten, und deswegen kann man über den Islam nichts sagen.

Man kann sich nicht zum Islam bekennen, denn man machte sich gemein mit den Faschisten.

Nur eine Bemerkung habe ich noch: Auch das Tragen des Kopftuches hierzulande ist nicht mit dem Islam zu rechtfertigen, im Gegenteil: Der Koran verlangt von den Frauen, sich „sittsam“ zu kleiden und „dezent“. Ein Kleidungsstück, das geeignet ist, zu provozieren und Aufsehen zu erregen, ist aber mitnichten sittsam und dezent. Eine wahre Muslima würde sich nie für das Tragen einer Kleidung entscheiden, die ihre Zugehörigkeit zum Glauben offensiv betont, insbesondere da, wo sie als Gläubige in einer Minderheit ist. Dieses Betonen der Eigenart (nicht zu verwechseln mit dem dezenten Bestehen auf der eigenen Meinung) wirkt unter Umständen provokant, und damit steht das Tragen des Kopftuches dort im Widerspruch zum Koran, wo es sich nicht einfügt in die Kleiderordnung der Bevölkerungsmehrheit. Muslimisch ist eine unauffällige, dezente Kleidung.

 

 

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Das Dilemma. Nach all diesen Betrachtungen wird klar, daß auf der einen Seite die Menschen eine Religion brauchen, um ein sinnvolles, erfülltes Leben zu führen, daß auf der anderen Seite aber die Religionen nicht dazu geeignet sind, den Menschen dieses Bedürfnis zu erfüllen, jedenfalls nicht in ihren populären, mehrheitsfähigen Varianten, die allesamt korrumpiert sind von den Verlockungen der Macht. Große Religionen sind keine religiösen Bewegungen, sie sind politische Organisationen mit dem Ziel, die Vormachtstellung der eigenen Klientel zu sichern und auszubauen.

Die Geschichte der Menschheit ist ja längst keine Geschichte mehr, die von menschlichen Akteuren erzählt, sondern es geht, dieser Prozess hat vor tausenden von Jahren angefangen und setzt sich fort bis heute - mehr und mehr um die Geschichte von organisationen. Kirche und Nationen, Banken, Versicherungen, Handelshäuser. Charismatische Menschen können die Geschicke einer solchen Organisation beeinflussen, aber im Grunde sind das Systeme, für die der einzelne Mensch keine Bedeutung mehr hat. Menschen haben ihre Rollen zu spielen und können ersetzt werden, wann immer sie ihre Rolle aufgeben oder selbständig verändern wollen. Insofern ist es wirklich in Zweifel zu ziehen, ob z.Bsp. Demokratien in der Lage wären, Entscheidungen zu treffen, die die Interessen mächtigerer Organisationen entgegenstehen.

Was heißt das aber für den Einzelnen? Politik, so sehr sie unsere Gedanken und auch unsere Herzen auch bewegt, ist im Grunde genommen nichts, das die Beschäftigung lohnen würde. „Mind your own business“ heißt die Empfehlung. Man kann sich ja informieren und ein aufgeklärter Bürger sein, aber niemand hat einen Einfluss auf das, was über seinen unmittelbaren Lebensnahbereich hinausgeht. Inshallah, alles passiert, wie Gott es will, und alles was wir tun können, ist, uns damit zu arrangieren. Es nützt nichts, über vernünftiges Engagement die großen Dinge ändern zu wollen. Klar, eine Bürgerinitiative kann den Bau einer Straße oder eines Flughafens beschleunigen oder hinauszögern, im kommunalen Bereich gibt es viele Dinge, in denen Engagement lohnt, aber je größer die Zusammenhänge werden, desto wehrloser ist der Mensch angesichts der Eigendynamik der größeren Systeme.

Die Aufgabe ist deshalb nicht, zu rebellieren und eine Revolution anzuzetteln. Die Revolution kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich der Mittel bedient, die sie abschaffen will, sie kann nicht hoffen, die Verhältnisse zu verbessern. Was wir allerdings verbessern können, ist unseren Umgang miteinander. Wir können uns in Mitgefühl, Dankbarkeit und Demut üben, wir können uns engagieren für die Verbesserung der lebensverhältnisse in unserem Umfeld, sei es der Schutz des benachberten Niedermoores, oder das Engagement in der Sterbehilfe, wir können helfen, Behinderte, Ausländer oder Rechtsradikale zu integrieren, wir können im Sportverein Gutes tun, für uns selber und für alle anderen. Wir können uns in Gemeinden für Alte, Schwache und Kranke einsetzen, und, vor allem anderen, wir können an uns selber arbeiten, an unserer Sprache, an unseren gedanken, an unseren Einstellungen. Wir können den Menschen um uns herum mit einem Lächeln begegnen, und in uns selber die Zuversicht des lebendigen Gottes spüren. Wir können Gott dienen, oder, wie es im Islam heißt, der Sinn des Lebens ist es, Allah zu dienen. Wenn wir diese Wahrheit verstanden haben, dann verlieren wir die Verzweiflung angesichts der Aussichtslosigkeit unserer Lage, die wir uns nur einbilden, denn solange wir atmen und leben bietet uns das Leben alle Möglichkeiten der Entfaltung, wenn wir sie nur zu nutzen wissen. Wenn wir uns eingestehen, wie schwach wir sind, beginnt auch das Verständnis für die Macht und die Möglichkeiten, die wir tatsächlich haben, denn können wir auch das große Weltgefüge nicht ändern, so können wir doch uns selber ändern, und mit der Kraft, die uns innewohnt, lassen sich wahre Berge versetzen, wenn auch nicht die, die unser Ego in seinen Allmachtsphantasien versetzt sehen möchte, sondern nur die, die das Schicksal uns in den Weg stellt. Aber wer das angeht, was er angehen kann, der wird ein wahrhaft großer Mensch sein. Und wenn wir alle die uns innewohnende Kraft entdecken, dannw erden wir zwar auch die Organisationen nicht entmachten, aber wir werden unseren Wirkungskreis vergrößern und irgendwann wird die Macht der Organisationen keine Rolle mehr spielen. Das ist der Weg aus dem Dilemma. Nicht ändern, was nicht geändert werden kann, sondern das entfalten, was möglich ist. Das ist so wenig und so viel.

 

 

 

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Wir sind gewohnt, wenn wir Geschichten lesen, historische Romane etwa, oder auch die sogenannte wissenschaftliche Forschungsliteratur, nach der historischen Wahrheit zu fragen. Wir wollen uns auf Fakten berufen, die eine Weltsicht zementiert und die andere ausschließt. Das ist Teil des menschlichen Strebens nach Erkenntnis, und es wäre ein grober Fehler, dieses Erkenntnisstreben zu relativieren, indem man sagte, jede Aussage sei ja nur richtig innerhalb der historischen Bedingtheit, aus der sie entstanden ist. Ja, das ist natürlich so, aber auch die Anzweiflung der Erkenntnis kommt aus derselben historischen Bedingtheit, und deshalb ist es immer gut, nicht weil es einer absoluten Wahrheit entspräche, aber einer relativen, dem Augenscheinlichem zu vertrauen. Aktuelle Naturwissenschaftliche Erkenntnisse brauchen nicht angezweifelt zu werden, Die Radio Carbon methode, mit der wir heute das Alter der organischen Überreste vergangener Zeitalter bestimmen können, ist immerhin ein Hinweis darauf, wie wir die alten Funde einzusortieren haben. Die Geohistorie der Plattentektonik, der Erd- und Mondentstehung, sogar die Urknalltheorie mit ihrer logischen Unzulänglichkeit, all das wartet vielleicht darauf, besser verstanden und erklärt zu werden, mit vielleicht ganz anderen Lösungsvorschlägen, aber es ist der „state of the art“, von dem wir ausgehen können und müssen. Diesen „state of the art“ der aktuellen Forschung anzuzweifeln, hieße, wider besseren Wissens, der Phantasie Vorzug vor der Realität zu geben.

Und doch gilt auch folgendes: Gerade die „Gläubigen“ der Wissenschaften (das sind meist nicht die Wissenschaftler selber, vielmehr ihre Anhänger unter der ahnungslosen Bevölkerung) überschätzen das Ausmaß dessen, was gesichertes Wissen ist, und halten stattdessen die gängigen Theorien und Erklärungsmodelle für gesichertes, bewiesenes Wissen. Das ist falsch. Der Stand der Wissenschaft ist immer der Stand des aktuellen Irrtums.

Der zweite, größere Irrglaube bezüglich der Wissenschaft betrifft ihren Geltungsbereich. Die Wissenschaft beobachtet das Beobachtbare, und das ist die Materie in all ihren Erscheinungsformen. Die Wissenschaft kann keine Aussagen über das treffen, was in der Materie nicht verankert ist. Die Wissenschaft kann Geist und Seele nicht beobachten, allenfalls in ihren mittelbaren Wirkungen auf die Materie, aber sie kann weder erklären, was Geist oder Seele ist, noch kann sie geistige oder seelische Phänomene überhaupt wahrnehmen. Ihr fehlen die Instrumente, ihr fehlt das Verständnis. Aus wissenschaftlicher Sicht sind Geist und Seele Phänomene, die es nicht gibt.

Da es sie aber doch gibt stellt sich die Frage nach der Geistesgeschichte und der Seelengeschichte nochmal neu. Die Wissenschaft kann keine Aussagen darüber machen, die Religion macht Aussagen, die verschlüsselt, umgedeutet und mißbraucht wurden, und alles was uns bleibt, ist, den neugierigen Blick des fragenden Beobachters zu schärfen, die Weisheit, die sich in uns öffnet in Demut anzunehmen und das Beste aus dem Wenigen zu machen, das wir persönlich für unsere eigene Wahrheit halten können. Große Welterklärungen gehören nicht dazu. Aber das Wissen darum, daß es wichtig ist, freundlich zu seinen Mitmenschen zu sein, sich um seine eigene seelisch geistige Entwicklung zu kümmern (durch Übungen, Meditation, Gebet), Gutes zu tun und Schlechtem die Spitze zu nehmen. Mitgefühl und Demut, wenn wir auch nichts anderes wissen, darin können wir uns immer üben und so näher zu uns selber kommen.

 

So ist diese Geschichte keine große Welterklärung. Sie ist mein persönlicher Ausflug in mein eigenes Inneres, um mich besser zu verstehen. Ich kann nicht hoffen, immer die Wahrheit zu sprechen, aber ich kann versuchen, immer wahrhaftig zu sein. Und auch das gelingt mir manchmal besser, manchmal auch weniger. Natürlich werde auch ich von meinen Dämonen gejagt, und das Besserwissen und die Überheblichkeit kenne ich gut. Das Ego findet viele Lücken. Aber ich übe mich, und diese Zeilen sind Teil meiner Übung. Ich mache weiter und bin selber gespannt, wohin die Geschichten von Ross und Worme, von Jaan und Ida mich noch führen werden ...